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Die Fremde

Gerhard Streminger

// Rezension von Monika Maria Slunsky

Warum gibt sich Emily Macleod, die ein behütetes Zuhause in Amerika hat, selbst den bedrückenden Beinamen „die Fremde“? Das Gefühl der Entfremdung von der eigenen Familie und von der Umgebung greift Gerhard Streminger in seinem Briefroman mit dem Titel Die Fremde auf. Emily Macleod und ihre Familie werden rücksichtslos aus der schottischen Heimat vertrieben. Das Dorf, in dessen beschaulicher Idylle sie aufwuchsen, wird für den Bau eines Wasserkraftwerkes und eines Staudammes völlig zerstört. Notgedrungen wandern die Dorfbewohner nach Amerika aus. Es ist bemerkenswert, wie intensiv Gerhard Streminger von der Verbindung erzählt, die ungebrochen zwischen Emily Macleod und der schottischen Lebens- und Denkweise fortbesteht.

Hintergrund des Romans ist ein dunkles Kapitel der schottischen Geschichte: Im Zuge der sogenannten „Highland Clearances“ kam es zur Zeit der europäischen Industrialisierung ab dem späten 18. Jahrhundert zur gewaltvollen Vertreibung der traditionellen Landbevölkerung, um Gutsherren im schottischen Hochland die Schafzucht großräumig zu ermöglichen. Die Folge davon war eine Auswanderungswelle, wobei die Betroffenen vor allem auf dem Seeweg nach Amerika flüchteten.

Gerhard Streminger erzählt in seinem Roman Die Fremde von den Geschehnissen auf jenem Auswandererschiff, auf dem sich auch die Familie Macleod befindet. Das Schicksal der Flüchtlinge scheint dabei in der Hand der Natur zu liegen: „Das Meer verwandelte sich in ein wildes Tier, das immer wieder immense Wellen gegen das Schiff schleuderte und es zu vertreiben suchte“.

Die lebensbedrohliche Auswanderung auf dem Seeweg ist bis heute ein gesellschaftspolitisches Thema und die Lektüre des Romans Die Fremde macht intensiv bewusst, dass sich solche Fluchtbewegungen im Lauf der Geschichte wiederholen.

„Das Dorf funktionierte für das Tal wie ein Herz“: Bevor es zum schicksalhaften Wendepunkt, nämlich der Vertreibung der Dorfbewohner kommt, werden Tradition und Werte des schottischen Lebens und das Clan-System nähergebracht. Balladen sind ein wichtiger Teil der Kultur, die Flora und Fauna des Hochlandes werden malerisch beschrieben und die Fähigkeit mit der Natur verbunden zu sein wird geradezu verehrt. Das Dorf gehört nach dem Verständnis der Clan-Mitglieder allen gemeinsam.

Die emotional aufwühlende Rückkehr von Emily Macleod an den Heimatort nach 25 Jahren gipfelt im achten Brief mit der Überschrift „Homo faber“ in einer Diskussion über den Sinn des Staudammbaus. Das Streitgespräch entfacht sich zwischen Emily Macleod und Darius, der als Flüchtlingskind damals in Schottland zeitweise von der Familie Macleod aufgenommen worden war. Rigoros veranschaulicht dieser Dialog zwei konträre Ansichten: Darius meint, dass der Bau sinnvoll war, weil die Gesellschaft als solche davon profitiert hat, während Emily Macleod entgegnet, dass die „Glücksmaximierung“, der industrielle Fortschritt, in keinem gerechtfertigten Verhältnis zum Leid jener Menschen steht, die dabei vertrieben wurden.

In diesem achten Brief ist der philosophische Diskurs besonders präsent. Er zieht sich jedoch als roter Faden durch den gesamten Roman. Dies macht den unverkennbaren Erzählstil von Gerhard Streminger aus.

Die Protagonistin Emily Macleod verfasst die zehn fiktiven Briefe des Romans. Ihre persönliche Botschaft richtet sich an ihre Enkelin Enya Macleod. Zwischen Emily und Enya entsteht von einem Brief zum nächsten eine immer engere Beziehung, obwohl es keinen Antwortbrief von Enya gibt. Die Briefsammlung ist gewissermaßen die geistige Hinterlassenschaft der zwischenzeitig verstorbenen Emily.

Diese reflektiert in den Briefen über ihre Erzählweise, der Erzählton wirkt besonnen und ruhig, Erzählzeit ist die Vergangenheit, wobei Emily Macleod auch melancholisch über gegenwärtige Entwicklungen nachdenkt: „Heute leben viele Menschen in einem von Natur weitgehend getrennten Lebensrhythmus…“.

Die Landschaftsbeschreibungen sind äußerst umfangreich und bildhaft, teilweise deutet sich ein poetischer Sprachstil an: „Nach den langen, finsteren Wintertagen, der großen Schlafenszeit der Natur (…)“. Es finden sich viele Vergleiche, etwa „koloriert wie ein Pferderücken“ und „Steine glitschig wie die Haut eines Fisches“. Begriffe wie „laird“ und „seanchai“, die aus dem Wortschatz der schottisch-gälischen Sprache stammen, deuten auf den Schauplatz der Erzählung hin.

Gerhard Streminger erzählt in seinem Briefroman Die Fremde eine tragische Familiengeschichte auf behutsame und nachdenkliche Art und Weise. Er bietet damit über die historischen Fakten hinaus einigen Lesegenuss.

Gerhard Streminger Die Fremde.
Roman.
Wien: Braumüller Literaturverlag, 2016.
240 Seiten, gebunden.
ISBN 9783992001620.

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Rezension vom 29.09.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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