#Roman

Die Freiheit der Fische

Sophie Reyer

// Rezension von Walter Wagner

Jakob ist anders. Schon in der Volksschule fällt auf, dass er seine Umgebung auf eine Art wahrnimmt, die sich den Begriffen seiner Altersgenossen entzieht. Aber auch seine Lehrerin zeigt sich ratlos, wenn es darum geht, ein „sich selbst abhandengekommenes Kind“ wie den kleinen Jakob richtig einzuschätzen. Was er stammelnd von sich gibt, deutet auf ein Außen hin, das keiner der gängigen Menschenwelten ähnelt. Der Knabe weiß nichts von dem fundamentalen Riss, der Subjekt und Objekt unwiderruflich voneinander trennt und die Eigenständigkeit des Individuums bekräftigt. Ihn fesselt das Vogelding, dem er durchs offene Fenster folgt, und erschreckt das Flugzeug, das den hohen Himmel dröhnend überquert, zu Tode. Wenn der Vater, ein Tiroler Bauer, zuschlägt, spürt der autistische Sohn die böse Hand und nicht die brutale Gewalt seines Erzeugers. Als Jakob mit seinem Zeigefinger Agathes Auge verletzt, ergreift Resi, die jüngere der beiden Schwestern, für ihren Bruder Partei. Doch für Jakobs Verhalten lassen sich keine mildernden Umstände ins Treffen führen.

Er wird nach diesem Zwischenfall in die Sonderschule versetzt, an der er ebenso scheitert. Seine öffentliche Stigmatisierung wird freilich erst ab dem Zeitpunkt unumkehrbar, da er auf dem Spielplatz ein Mädchen sexuell bedrängt. Jakob wird kurzerhand in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, wo man ihm zuerst Beruhigungsmittel injiziert und ihn schließlich künstlich ernährt. Hätte er früher als Dorfsimpel friedlich seine Kreise gezogen, wird er nun von den autoritären Normalisierungsstrukturen der Erwachsenen vereinnahmt und sprichwörtlich in die Knie gezwungen.

Der Sohn hat Schande über den Vater und die Familie gebracht, weshalb er von der Klinik nicht wieder nach Hause zurückkehrt, sondern hinauf auf die Alm mit dem bezeichnenden Namen Herzensgrund zieht, wo die Bauersleute eine Hütte besitzen und Jakob in der Vergangenheit glückselige Stunden verbracht hat. Dort oben, unweit eines Bergsees und der elterlichen Sennhütte, lässt sich der Verstoßene in einer Höhle nieder, um ein selbstbestimmtes Dasein als Einsiedler zu führen. Von Kräutern, Wurzeln und selbst ausgesätem Getreide ernährt sich fortan der haltlose Alpenrobinson, der mehrere Jahrzehnte später völlig geschwächt ins Tal ‚evakuiert‘ wird.

Diese von Sophie Reyer meisterhaft erzählte authentische Geschichte deckt die Machtmechanismen auf, mit denen die moderne Gesellschaft abweichendes Verhalten unter dem Deckmantel gesellschaftlicher Hilfeleistung diszipliniert und gleichschaltet. Die in der kapitalistischen Moderne als Kardinaltugend gepriesene Normalität als Ausdruck perfekter Konformität zeichnet den Erfolgreichen und Tüchtigen gegenüber dem Randständigen und Exzentrischen aus, den es auszumerzen gilt. Der Preis der bedingungslosen Eingliederung in die utopistische Gemeinschaft der Gleichen ist im besten Fall der sich entfremdete Einzelne, im schlechtesten hingegen der ausgegrenzte Behinderte, der, um seinen Peinigern zu entgehen, den Rückzug ins Gebirge antreten muss. Marcuses Eindimensionaler Mensch lässt bei der Lektüre von Reyers Roman ebenso grüßen wie Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft und erinnert uns einmal mehr daran, dass die Aufklärung drei Jahrhunderte nach ihrem ersten Aufleuchten am Horizont der westlichen Geistesgeschichte in der heutigen Praxis schnell an ihre Grenzen gerät. Wo ist der Platz des Fremden? Welche Rolle hat es, hat er in einem auf Funktionalität und Effizienz ausgerichteten Gesellschaftsentwurf zu spielen? Und wer bestimmt, welche Existenzen in der so genannten offenen Gesellschaft ihren Anspruch auf Zugehörigkeit stellen dürfen?

Jakob jedenfalls bleibt ausgesperrt, weil offenbar weder sein fotografisches Gedächtnis noch seine Fähigkeit, mit den Dingen der Natur zu kommunizieren, in Zeitläuften umfassender ökonomischer Vernunft nachgefragt werden. Der inzwischen zum Mann herangewachsene Jakob tanzt aus der Reihe, wird zum Überzähligen, zumal „Veränderung in vertrauten Dingen und Abläufen“ zwangsläufig seinen Tod bedeutet.

Der Autorin ist es in ihrem Roman gelungen, ein sensibles Porträt dieses nur scheinbar tumben Protagonisten zu zeichnen, indem sie ihm mittels einer bilderreichen, empathischen Sprache nachspürt und der Leserschaft den sinnlichen Reichtum seines Paralleluniversums eröffnet. Wir haben es hier nicht mit einer Durchschnittsexistenz zu tun, sondern mit dem Antihelden eines romantischen Kunstmärchens, in dem die heilsame Begegnung mit der verwandten Seele nicht fehlen darf. Denn inmitten von Zurückweisung und Ausgrenzung fällt Jakob die zärtliche Zuneigung seiner Schwester Resi zu, die dem „Krüppel“, wie ihn Agathe nennt, die Treue hält. Sie ist die Einzige, die sein Gestammel versteht und Zugang zu seinem Inneren findet. Unter diesem Blickwinkel erweist sich Die Freiheit der Fische nicht nur als Plädoyer für Toleranz, sondern auch als feinsinnige Geschichte einer Geschwisterliebe, in der zwei Heimatlose das rare Gut tiefer menschlicher Beziehung auf ihre Weise erfahren. Und wenn sich Jakob am Ende ganz in sich zurückzieht, weiß Resi, dass er weiterleben wird: „Ohne Jakob wird Frühling sein, sagt sie sich, und als das Bild vor ihren Augen wieder zu zerrinnen beginnt, noch einmal: Ohne Jakob wird Frühling sein.“ Das ist große, unprätentiöse Prosa, wahrhaftig und schön.

Sophie Reyer Die Freiheit der Fische
Roman.
Wien: Czernin, 2019.
160 S.; geb.
ISBN 978-3-7076-0659-1.

Rezension vom 20.02.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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