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#Prosa

Die Frau auf meiner Schulter

Andrea Winkler

// Rezension von Birgit Schwaner

Aus der Zeit gefallen in ihr

Die menschliche Schulter ist seit eh und je ein beliebter Aufenthaltsort für feinstoffliche Wesen. In einer christlichen Legende trägt der Riese Christophorus das Jesuskind auf seiner Schulter durchs Wasser und im Islam kennt man die „Schreiberengel“ – Einflüsterer, die sich neben den Ohren eines Menschen niederlassen, quasi auf kopfnahem Logenplatz, und dessen gute wie schlechte Taten protokollieren. Den weniger heiligen, sozusagen niederen Hemisphären der Elementargeister und Dämonen entstammen dagegen die „Aufhocker“, die im Volksglauben zahlloser Kulturen ihr Unwesen treiben: Untote, Irrlichter, Kobolde sowie andere Albtraumgeschöpfe springen da hinterrücks auf einen drauf, im Finstern und bei diffusem Licht, und lassen sich nur mit Magie vertreiben.

Aufgeklärt und (küchen-)psychologisch versiert erklären wir heutzutage derlei Druckgeister eher symbolisch, als Manifestierungen seelischer Belastung, und schicken Betroffene gern zum Psychiater, ins Yoga-Seminar, zum Neo-Schamanen usw. Die Zuständigkeiten sind ja in der konsum-, kapital- und technikgeprägten Welt des 21. Jahrhunderts in solchen Fällen nicht klar; ohnehin scheint es oft genug eben diese atemlose, kapitalfixierte Welt der Gegenwart selbst zu sein, die vielen „aufhockt“ und sie, salopp gesagt, nicht zu sich kommen lässt.

Vielleicht kann man Andrea Winklers Die Frau auf meiner Schulter als Geschichte eines solchen „Zu-sich-Kommens“ lesen. Dafür spräche, dass der Roman in Gestalt eines fiktiven Tagebuchs auftritt: Das Tagebuch als privateste und unmittelbarste aller Textformen lässt – sogar als literarisches, für die Veröffentlichung geschriebenes – LeserInnen hoffen, dass sich in ihm Zeile für Zeile ein anderer Mensch offenbart, den man lesend beim Prozess des Schreibens und Reflektierens begleitet, an dessen Erlebnissen und Beobachtungen man aus nächster Nähe teilhat und in dessen Worten man, auch dank der distanzlosen „Ich“-Perspektive, vielleicht sogar sich selbst wiederfindet.

Die Hoffnung auf ein Stückchen Erkenntnis der Innen- wie Außenwelt mögen LeserInnen von Tagebüchern mit deren VerfasserInnen teilen. Dass sie zugleich erfüllt werden könnte und nie ganz erfüllt wird, liegt u.a. am Erkenntnisinstrument, dem einzigen, das zur Verfügung steht: der Sprache – die als Oberflächenphänomen eine „Tiefe“ nur darstellen, vorspiegeln, doch nie aussprechen kann. Weshalb die mitteilsamsten, wortmächtigsten TagebuchschreiberInnen wohl zugleich die größten Illusionisten sind (in dem Sinne, dass Erkenntnis nur mithilfe einer komplexen Täuschung, der Sprache, zu haben ist). So wird das Tagebuch zum Ort, an dem ein schreibendes Ich immer wieder versuchen kann, sich die „Welt“ im Kopf zu ordnen, Wahrgenommenes und Erlebtes zu reflektieren, Gedanken oder Gefühle zu klären, kurz: „zu sich zu finden“ ohne je ans Ziel zu gelangen. Aber es gibt keinen anderen Weg.

Und so beginnt Martha, die tagebuchschreibende Protagonistin (und daher Ich-Erzählerin) Andrea Winklers auf der ersten Buchseite mit einem Eintrag, datiert mit „3. JÄNNER“, und endet auf der letzten mit Datum „17. JULI“. Das Fehlen einer Jahreszahl deutet bereits auf die Situation hin, in der sich Martha befindet, oder besser, in die sie sich begeben hat: Etwa sieben Monate vor dem ersten Eintrag hat Martha ihren bisherigen Lebensalltag verlassen – man vermutet, dass sie in einer größeren Stadt als freiberufliche Künstlerin oder ‚Kulturarbeiterin‘, vielleicht Kuratorin tätig war – und ist für unbestimmte Zeit aufs Land gezogen, in ein Dorf mit Bahnanschluss und Gaststätte. Hier wohnt sie in einem Haus, dessen verstorbener Besitzer Friedrich es über die Gemeindeverwaltung und gegen eine geringe Miete Menschen zur Verfügung stellte, die „aus der Zeit fallen […] und dennoch in ihr bleiben“. Es geht somit um Wesentliches, denn wer aus der Zeit fällt und nicht stirbt oder wahnsinnig wird, der oder die kann nur in den Augenblick fallen und zurück auf sich, in seine/ihre unmittelbare Wahrnehmung. Also in einen Zustand absoluter Gegenwärtigkeit – in dem das exakte Datum so wenig eine Rolle spielt wie die Uhrzeit und der Großteil daran hängender Verpflichtungen und Zerstreuungen: Termine, Nachrichten, das Internet …

Warum aber hat sich Martha an diesen abgelegenen Ort und ins Alleinsein zurückgezogen? Einmal erklärt sie:

„[…] die einzige Absicht, die ich hatte, als ich hierherfuhr, war, auf jegliche Absicht zu verzichten, außer der, morgens aufzustehen, abends schlafen zu gehen und mich dazwischen dem zu überlassen, was auf mich zukommt. Womöglich eine Konsequenz daraus, dass mir jahrelang jeder noch so vage Plan durch unvorhersehbare Ereignisse zertrümmert wurde.“ (S. 140 f.)

Wir erfahren vom Tod des Vaters; von den Bildern ihrer „toten Verwandten und Freunde“, die sie auf einem Regal aufbewahrt – und von ihrer Lektüre des „Phaidon“, d.h. des platonischen Dialogs über Sterben und Tod. Da Martha neben dem Tagesgeschehen ihre Träume notiert, lesen wir ab der ersten Seite auch von Josip, einem verschollenen Freund. Viele der (manchmal vielleicht zu gut passenden) Traumnotate und surrealen Szenen enthalten dementsprechend Thanatos-Symbole oder Bilder des Fallens, Abrutschens, Entschwindens; auch die titelgebende Frau auf der Schulter – eine geschrumpfte, weinende „Unbekannte“ – hockt sich in einem Traum auf Martha, in dem sie von ihr an einem Mann vorbeigetragen wird, der übers Sterben redet, zunehmend leiser, bis er nur die Lippen bewegt … Später wird Martha dann die Nachricht von Josips Tod erhalten – was diesen Träumen im Nachhinein eine ahnungsvolle Verbindung zur „Realität“ bescheinigt.

Ohnehin gehen in Andrea Winklers Text, nur optisch durch Leerzeilen getrennt, Traum- und Tageswirklichkeit Hand in Hand. Martha und die Menschen, die sie bei ausgedehnten Spaziergängen rund um das Dorf kennenlernt, wirken manchmal wie entfernte Nachkommen der Sonderlinge und Tagträumer, die in der Literatur spätestens seit der Romantik der Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins, absichtlich oder unbewusst, einen „poetischen act“ (H.C. Artmann) entgegensetzen. So gibt Martha in der schneebedeckten Landschaft ihrem „Verlangen“ nach, den Bäumen und Gräsern etwas zuzuflüstern und schreibt in heiterem Übermut, dass sie sich am liebsten vor dem Postkasten verbeugen würde, aus Dank dafür, dass er nichts enthält, was die Muße stört (eines der verzaubernden Bilder, an denen dieser Text so reich ist). Die Schauspielerin Katharina steht bei einer ersten Begegnung „in der Mitte einer Brücke“ und ruft „einem Unbekannten auf der nächsten Brücke“ zu: „Bananen! Schamanen! Hörst du mich? Hörst du mich?“. Oder ein alter Mann sagt sich jeden Tag neunundneunzig Namen auf, um die dazugehörigen Personen nicht zu vergessen. So versucht jeder auf seine Weise, sich im Dasein zu halten.

Katharinas absurd-sehnsüchtiges Rufen allerdings gehört wohl zu einer Rolle, die sie, nur für sich, einprobt: Die Schauspielerin ist ebenfalls wegen ihrer Krankheit in dem Dorf – und abseits der Leistungsgesellschaft – gestrandet. Das Gleiche gilt für die Sängerin Olenka, die mit einer Thermoskanne voller Glühwein unterwegs ist und entweder einen Ehemann oder, noch unwahrscheinlicher, einen anständig bezahlten Job finden muss, um ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern. Martha, Katharina und Olenka werden Freundinnen; man stellt sie sich als Frauen um die 40 vor, die bereits ernüchternde Erfahrungen im Kunst- und Kulturgeschäft gemacht haben und, durch „unvorhersehbare Ereignisse“ aus der anvisierten Bahn geworfen, in prekäre Zustände gedrängt wurden. Dieses Unvorhersehbare kann man pauschal „das Leben“ nennen, und es ist das Versöhnliche, Eigenwillige und Stimmige an diesem Buch.

Aus Marthas Perspektive und, wie es einmal heißt, „mit nichts als Dasein befasst“, bleibt die Aufmerksamkeit zumeist beim einzig Sicheren: dem augenblicklich Gegebenen. In den Beschreibungen von Landschaften und Räumen, den feinen Beobachtungen zum Licht und den Wirkungen der Stille zeigen sich besonders – und einmal mehr – die große Sprachkunst und -sensibilität Andrea Winklers, die dieses Buch zweifellos zu einem ästhetisch beglückenden Lese-Genuss machen. Vielleicht nur liegen die melodischen, wunderbaren Sätze ein wenig zu sehr (wie ein engmaschiger, poetischer Filter) über dem Geschehen, schließen zu sehr aus, was den gleichmäßigen, entrückt-gelassenen Ton Marthas, die verletzliche Heiterkeit in ihren Beschreibungen stören würde. So fragt man sich etwa, ob Olenka oder Katharina nicht verzweifelter sein müssten; oder ob, als sich den drei Frauen noch drei Männer zugesellt haben, die gemeinsamen Treffen ganz ohne erotische – die Harmonie der Gruppe möglicherweise kippende – Schwingungen abliefen … Ob die Stärke des Textes, sein kindlich-offener Blick, auf den Freundeskreis Marthas angewendet nicht zu einer Schwäche wird. Allerdings könnte das eine Schwäche Marthas selbst sein und zeigen, dass sie noch zu verwundbar und in sich eingekapselt ist, um Gefühle wie Ausweglosigkeit zuzulassen, geschweige den Gedanken, dass das, was alle hier verbindet – u.a. eine spielerische Phantasie – in der „Welt“ kaum einen Platz findet. Es sei denn in der Kunst, für die aber auch gilt, dass wer reüssiert dem Markt ausgeliefert wird. Und damit ganz anderen Aufhockern als einer schrumpfenden Unbekannten. Oder einer Rezensentin, die noch gerne mehr geschrieben hätte, aber hier mit einer Empfehlung und dem Hinweis auf die Leseprobe abhüpft.

Die Frau auf meiner Schulter.
Roman.
Wien: Zsolnay Verlag, 2018.
192 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-552-05904-7.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 12.02.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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