#Roman

Die Flut

Carol Ascher

// Rezension von Martin Reiterer

Es geht sich nicht recht aus. Folgt man der noch nicht zehnjährigen Eva in ihrer Kindperspektive, so erscheint die kleine Heldin ein bisschen sehr altklug. Doch auch eine vermittelte Perspektive, welche aus der Erinnerung die frühen jugendlichen Wahrnehmungen der Erwachsenenumwelt nachvollziehbar machen sollte, sperrt sich der Lektüre. So ist der Roman schließlich nicht angelegt.

Ein verwandtes Unbehagen teilt sich auch auf der sprachlichen Ebene mit: Atmosphären, die in diesem Roman umrissen werden, wirken vielfach hölzern und leider nicht überzeugend. Dialoge, besonders wenn sie dem Atmosphärischen dienen sollen und nicht so sehr Eigenwert besitzen, klingen öfters mal künstlich und sind – beispielsweise wenn sie Peinlichkeit oder Pathos evozieren sollen – selbst peinlich oder pathetisch. Bestimmt lässt sich dies nicht allein auf Übersetzung bzw. Lektorat schieben, doch ist es schade oder bedenklich, wenn ihnen dergleichen durch die Finger geht. Und „Leutchen“ für Amerik. „folks“ raschelt halt etwas stark nach Papier.

Andererseits enthält der reichlich konventionell verfasste Roman einen durchaus spannenden Plot und zweifellos ein wichtiges Anliegen.
Die Flut spielt im US-Amerika der 50er Jahre, in einem kleinen Provinzkaff in Kansas. In einem Interview nimmt die Autorin Carol Ascher, Professorin für Pädagogik und Social Policy an der New York University mit Forschungsschwerpunkt zu Problemen von farbigen SchülerInnen in öffentlichen Schulen, auf ein persönliches Erlebnis Bezug, das den Hintergrund ihres Romans plastisch illustriert. Als zehnjähriges Mädchen reist sie in den 50er Jahren mit ihren Eltern, die als jüdische Flüchtlinge (aus Wien bzw. Berlin) vor dem Naziterror in den USA Sicherheit gefunden hatten, von Kansas Richtung Süden. Dabei entdeckt sie in einem Bahnhof zwei Arten von Toilettenhinweisen: „Ladies“ und „Gentlemen“ auf der einen Seite, „Colored Men“ und „Colored Women“ auf der anderen. Ein schwindelerregender Schreck erfasste sie.

Die staatlich noch verankerte Trennungspolitik im Bereich des öffentlichen Lebens und eine offen schwarzenfeindliche Gesetzgebung der 50er Jahre einerseits sowie der autobiographische Kontext einer jüdischen Emigrantenfamilie andererseits bilden die Hauptkoordinaten des Romans. Während für Eva ein idyllischer Sommer mit Sarah, ihrer jüngeren Schwester, und ihren Eltern bevorzustehen scheint, kommt diesmal alles anders. Das hängt zum einen mit Evas Erwachsenwerden zusammen. „Es war der Sommer, in dem ich am liebsten nur solche Fragen stellte, von denen ich glaubte, daß sie sehr schwer zu beantworten waren.“ (11) Zum anderen sind es äußere Umstände, die diesen Prozess sozusagen erleichtern: Eine Überschwemmung setzt mehrere Bezirke der Provinzstadt unter Wasser, betroffen davon sind weiße Proletarier und Schwarze. Sie werden vorerst von den zugehörigen Kirchen notdürftig aufgenommen. Von der Putzfrau, einer Schwarzen, erfährt Eva etwas von einem Prozess, den Reverend Brown gegen den Board of Education und die Segregation in den Schulen führt (wobei es sich um einen historischen Fall handelt). Nach und nach kommt Eva dahinter, dass es kein Zufall ist, dass in ihrer Schule weder schwarze Kinder noch Lehrer vertreten sind. Bei einem Besuch einer Kirche mit ihrer Nachbarin hört sie aus dem Munde des Pastors offen rassistische Hetzreden. „Neger wollen auf einmal weiß sein […]“ (62) Dieselbe Nachbarin will ein Kind adoptieren, aber kein „Negermädchen“ … Im eigenen Elternhaus folgt Eva neugierig verschiedenen Diskussionen zu diesen Themen, die sie teils selbst durch ihre Fragen hervorruft. Doch während ihre Mutter mit ihrem „Erst wenn wir alle gleich sind“-Wunschdenken einer schonungslosen Diagnose der realen Vorgänge aus dem Weg geht, flüchtet sich der Vater in leicht defaitistischer Haltung in die Musik. Auch die jüdischen Emigrantenfreunde, die zum Musikabend auf Besuch sind, gehen unangenehmen Diskussionen über Segregation, über Integration und Assimilation, über Schwarze und Juden lieber aus dem Weg: „Das Hochwasser bringt alle durcheinander. Wir sollten ein paar Takte spielen, irgendetwas streng nach Noten.“ (104)

Die wahre Herausforderung für Eva kommt erst, als die Eltern sich bereit erklären, eine von der Hochwasserkatastrophe betroffene Familie bei sich aufzunehmen. Anfangs muss Eva damit zurechtkommen, dass durch die fremde Familie ihre eigene Privatsphäre gestört wird. Allmählich verschiebt sich aber das Problem, als Jolie, die Tochter der neuen Mitbewohner, die schwarze Putzfrau der Eltern beleidigt. Evas Versuche, darüber mit ihren Eltern zu sprechen, bleiben fruchtlos. Richtig vor den Kopf gestoßen werden diese erst dann, als die Flüchtlingsfamilie – zwar keineswegs unglaubwürdig, aber doch stark schablonenhaft in der Darstellung – scheinbar ungeniert ihre Vorurteile gegenüber Schwarzen wie Juden – und zwar solche allerübelster Sorte – auspackt. Es ist die bürgerliche Gehaltenheit von Evas Eltern, die einer offenen Konfrontation vorbaut. Man bemüht sich, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Gerade diese Haltung ist es, die Eva zutiefst irritiert. Mehr und mehr gerät die Heldin des Buches in eine Distanz zu ihren Eltern, zieht sich auf ihre Lektüre „Der geheime Garten“ zurück oder versucht in Gesprächen mit Mordechai, einem Freund des Vaters, ihre Wahrnehmungen zu hinterfragen und ihr kritisches Denken zu schärfen. Sie gehören zusammen mit anderen Passagen des Buches, in denen es um die Wiedergabe unterschiedlicher Positionen und Argumentationsgesichtspunkte geht, in denen die widersprüchliche Überlagerung von vermeintlich toleranten und tatsächlich vorurteilsbehafteten Auffassungen transparent wird, zu den gelungensten des Romans.

Carol Ascher Die Flut
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Sabina Illmer.
Wien: Picus, 2001.
(Reihe Österreichische Exilbibliothek)
235 S.; geb.
ISBN 3-85452-453-6.

Rezension vom 28.05.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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