#Prosa

Die ferne Stadt

Thomas Weyr

// Rezension von Ursula Seeber

Die Famlie war in Wien sehr bekannt: Sein Großonkel, der Bildhauer Rudolf Weyr, hat die Ringstraße und viele Gebäude und Denkmäler mit seinen Skulpturen und Reliefs geschmückt. Sein Vater Siegfried Weyr war ein bekannter Journalist der sozialdemokratischen Presse (Das kleine Blatt, Der Kuckuck), die Mutter Helene Weyr Ärztin im Umkreis der Individualpsychologie um Alfred Adler. In diesem intellektuellen Milieu des Roten Wien wuchs der 1927 geborene Sohn, früh an Kultur und politische Debatten gewöhnt, auf. Der heute in Wien und New York lebende Psychologe, Schriftsteller und Übersetzer hat nun seine Autobiografie vorgelegt.

“Immer war Wien weit weg”, beginnt Weyr seine Erinnerungen, und er meint damit zunächst das Wien seiner Kindheit, denn die Innere Stadt erscheint von Grinzing aus stets in großer Entfernung. Der titelgebende Topos zieht sich durch das gesamte Werk. Im Exil wird die „ferne Stadt“ Wien zur Wunschtopografie und zum Sehnsuchtsort. Als Substitut suchen seine Eltern im Exil “Wiener” Kaffeehäuser wie das “Old Vienna” in London oder das “Eclair” in New York auf. Zur Alptraumstadt wird das zerbombte und emigrantenfeindliche reale Wien zunächst für den Vater, der 1947 zurückkehrt, aber – wegen seines pragmatischen Verhaltens 1934 bis 1938 als “Austrofaschist” beschimpft – in der Arbeiter-Zeitung nicht mehr aufgenommen wird. Er arbeitet in der Folge als Theaterkritiker beim Wiener Kurier. Als ambivalente Fremdstadt präsentiert sich Wien schließlich auch für den 1948 zum Studium zurückgekehrten Sohn.

Dank des erhaltenen väterlichen Tagebuchs und vieler Briefe kann Weyr die Familiengeschichte gut rekonstruieren und diese Stützen des kollektiven Gedächtnisses mit seinen individuellen Erinnerungen abstimmen. Diese halten nicht nur idyllische Kindheitsmomente, Lektüreerlebnisse und Erfahrungen einer mit hoher Anpassungsleistung verbundenen Jugend im Exil fest, sondern auch lesenswerte Begegnungen mit Menschen aus Kunst und Politik, darunter der Literaturagent Joseph Kalmer, der Politiker Viktor Matejka, der Psychologe und Weyrs Lehrer Walter Toman, der Maler Rudolf Hausner.

Thomas Weyr berichtet, daß in seiner Familie einer guten Geschichte gern der Vorzug gegenüber den Fakten gegeben wurde. Voll von amüsanten Anekdoten und pointierten Geschichten ist denn auch dieses Erinnerungsbuch, das trotzdem die Tragik der Leben und die Schwere der Zeitläufte nicht verleugnet. Wie der Vater, der in seinen letzten Jahren mehrere Sachbücher und Anthologien zu Wien herausgegeben hat, ist auch Thomas Weyr als Publizist dem Thema der “fernen Stadt” treu geblieben: 2005 erschien sein Werk über Wien unter Hitler The Setting of the Pear”.

Die ferne Stadt. Erinnerungen.
Innsbruck: Limbus Verlag, 2015.
336 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-99039-040-5.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 21.12.2015

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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