Auf surreale Art führt Wilhelm Pevny nach „Bluethenia“. Es handelt sich dabei um einen Ort, an dem die Vermenschlichung von physikalischen Teilchen stattfindet. Quantensprünge werden dabei zu emotionalen Abschiedsdramen, und energetisches Gleichmaß besteht nur dann, wenn jeder jedem das Seine gönnt. Der energetische Austausch besteht aus Abstoßen und gegenseitigem Anziehen, womit der Liebesreigen gemeint ist. Wilhelm Pevny übersetzt phantasievoll aus der unkörperlichen Dimension in die Gefühlswelt, beispielsweise entschlüsselt er einen nummerischen Code als Liebreiz. Letztlich gibt es auf „Bluethenia“ nur ein Ziel, nämlich die Schwerkraft in den Energiefeldern außer Kraft zu setzen, um im Zustand völliger Schwerelosigkeit sich seinen Gefühlen hinzugeben.
In der zweiten Dimension, welche an die aktuelle und alltägliche Welt erinnert, lebt Christl Wallner. Mathematik ist nicht nur ihr Beruf und Talent, sondern ihre Lebensphilosophie und ihr Wegweiser durch den Gefühlsdschungel. Auf der Suche nach dem Wesentlichen ist Christl die Liebesbeziehung zu Elvira eingegangen, aber auch darin findet sie keine Erfüllung. Christl ahnt, dass das Grundgefühl „unmathematisch“ ist und sich nicht mit einer Formel errechnen lässt. Viel Zeit zum Tüfteln bleibt ihr aufgrund einer tödlichen Krankheit allerdings nicht mehr.
Die dritte Dimension widmet Wilhelm Pevny dem literaturwissenschaftlich geneigten Leser. Aus einer Chronik von 1500 wird von einem Boten namens Ludewig erzählt, der im mittelalterlichen Dunst und Nebel auf der Suche nach der Liebe ist und so einige, nämlich standesrechtlich, verbotene Liebesabenteuer erlebt. Die mittelhochdeutschen Passagen werden so manchem Leser eine spielerische Freude bereiten, der einst diese ältere Stufe der deutschen Sprachen lernen durfte.
Die Verwirrung am Beginn der Lektüre, die von Wilhelm Pevny kühn beabsichtigt sein mag, löst sich auf, als sich die drei Dimensionen zu vermischen beginnen. Allmählich kombiniert und entschlüsselt man den vielschichtigen und komplexen Romanzyklus, beinahe kriminalistisch. Die Erschaffung der Gefühle ist eben keine romantische Geschichte in vielen Seiten, sondern ein spannendes, entsprechend dem Untertitel, abenteuerliches Werk.
Charakteristisch für Wilhelm Pevnys Stil in Die Erschaffung der Gefühle sind seine verzweigten Schachtelsätze und eine deskriptive Ausdrucksweise. Die Farbe Blau, welche Sehnsucht symbolisiert, hat leitmotivische Bedeutung. Kulturelles Interesse lässt Wilhelm Pevny durch zahlreiche interkulturelle Verweise wie jene auf Gustav Klimt, Tschaikowsky, van Gogh oder „den fliegenden Holländer“ einfließen. Die Dimensionen äußern sich stilistisch als drei Erzählstränge einer Rahmengeschichte, nämlich jener Ich-Erzählung über den Komapatienten, der im tranceartigen Zustand pausenlos spricht. Der Clou daran ist, dass der Romantext die Niederschrift der Tonbandaufnahme von dem Redefluss des Komapatienten sein soll.
Die Erzählperspektiven wechseln genauso rasch ab wie die Sprachweisen der jeweiligen Dimensionen und die Personalpronomen, als hätten die Figuren Identitätsprobleme. So ist die Welt von „Bluethenia“ geprägt von Symbolen und Formeln, während wir von Christls Leben im Alltagsjargon erfahren und Ludewigs Geschichte teilweise auf mittelhochdeutsch, beispielsweise „mit spec unde eiern unde einr kreftec zigenmilich“, erzählt wird. Die außerordentlich gelungene sprachliche Differenzierung sorgt für Lebendigkeit.
Die optische Formatierung von Passagen in fettgedruckt, Großbuchstaben oder kursiv ist nicht notwendig, stört aber auch nicht. Dahingegen bietet die Gliederung in fünf Bücher und in so genannte Absenzen mit Augenblicken eine harmonische Struktur für den doch sehr umfangreichen Romanzyklus.
Wilhelm Pevny stellt sich mit seinem 900-seitigen Romanzyklus mutig und beeindruckend gegen den modernen Trend zu short messages und bietet so mit Die Erschaffung der Gefühle ein sattes Lesevergnügen.