Es geht nicht immer darum etwas zu erfinden. Andreas Pavlic nimmt ein reales historisches Ereignis zum Ausgangspunkt seiner Figuren, die Höttinger Saalschlacht. Bei dieser handelte es sich um „eine Auseinandersetzung zwischen Nationalsozialisten wie Mitgliedern des Republikanischen Schutzbundes und Kommunist*innen“ wie man der kurzen Zeitleiste am Ende des Buchs entnehmen kann. Ein SA-Mann wurde dabei mit einem Messerstich ermordet und einige Personen schwer verletzt. Die in kommunistischen Gruppen organisierte Thusnelda nimmt ihre Freundin Annemarie, die sich rasch zur Hauptfigur entpuppt, mit zu dem Aufeinandertreffen der damals rivalisierenden politischen Kräfte. Von einem Versteck aus beobachten die beiden jungen Frauen das Gefecht. Thusnelda ist die politisch Informierte und Engagierte von den beiden. Ihre Diagnose über den Ausgang der zunehmenden Frontenbildung zwischen Kommunismus/Schutzbund und Nationalsozialismus ist für Annemarie relevant und fällt düster aus: Hinter dem Brenner würde der Faschismus warten, Kleinbürger und Bourgeoisie würden Hitler bejubeln: „Da gibt es wenig Land zum Leben.“ „Ohne Ufer geht die beste Schwimmerin unter“, antwortet Annemarie und spricht dabei gleichsam schicksalshafte Worte aus. Apropos Schicksal, im Zuge der Saalschlacht stößt Annemarie auch auf Johann, ihren künftigen Ehemann.
Im Gegensatz zum Terror und Leben im Dritten Reich fristet die Zwischenkriegszeit beziehungsweise die 1. Republik in der gegenwärtigen österreichischen Literatur ein eher schattenhaftes Dasein. Genau diesem Zeitraum und seinen politischen Entwicklungen, Machenschaften und Umstürzen widmet Pavlic zumindest den ersten Teil seines Buchs und verschafft damit seinen Leser*innen einen wichtigen Überblick. Doch nicht nur das, er spürt der Perspektive einer fern der Großstadt Wien lebenden, von höherer Bildung abgeschnittenen jungen Frau nach, die sich zwar informiert, die jedoch in ihrer Meinungsbildung stark auf die ihr zur Verfügung stehenden Medien, auf Propaganda und Bekannte angewiesen ist. Annemarie hat Träume, sie möchte tanzen, die Welt kennenlernen und zu ihrer Verbesserung beitragen, doch ihre Möglichkeiten sind in Zeiten von hoher Arbeitslosigkeit und prekärer politischer Lage deutlich eingeschränkt, in Johann hat sie einen Gleichgesinnten gefunden. Die beiden schwärmen von einem Neubeginn in Amerika, diskutieren einen alternativen Lebensentwurf in der Sowjetunion, wählen dann doch das Naheliegende und gehen im Festtagsgewand zum Nazi-Aufmarsch. Auf die Niederschlagung der Februarkämpfe 1934 folgte ihre persönliche Resignation, sie möchte nun Teil des propagierten Aufschwungs sein.
Der Sohn kommentiert aus dem Off
„Ich möchte erzählen, was sich hier zugetragen hat, da ich in den letzten Jahren so viele Ähnlichkeiten in einzelnen gesellschaftlichen Entwicklungen zum Ende meines eigenen Lebens gesehen habe.“ Auf einer zweiten Erzählebene meldet sich ein Ich-Erzähler zu Wort, er stellt sich als der Sohn von Annemarie und Johann vor. Diese Erzähltechnik erlaubt es Pavlic, Bezüge zur Nachkriegszeit und zur Gegenwart in den zeitgeschichtlichen Stoff einzuarbeiten. Zudem gibt sie ihm die Möglichkeit, die aus heutiger Sicht fragwürdigen Entscheidungen von Annemarie und Johann in ein anderes Licht zu rücken. Denn primär würden alle Menschen in Freude leben wollen und nicht in Terror und Gefahr. Die Figur des älteren Nachkommen gerät zum Prototyp des bedenklich den Kopf schüttelnden Allwissenden: „Das Merkwürdige ist, dass man es immer so präsentiert, als würde dieser Extremismus von außen kommen (…) Doch das stimmt nicht. All diese Formen kommen aus unserer Mitte und dehnen sich dann aus, da die Menschen diese Haltung übernehmen.“ Diese Erzählebene verrät viel über die Machart des Buchs und leitet seine Leser*innen an.
Innenansicht der Figuren
Die Erinnerten spüren dem Wandel der politischen Gesinnung Annemaries nach. Die einst mit dem Kommunismus liebäugelnde Hauptfigur haucht nun eine Rede des Gauleiter Hofers hörend: „Fast so schön wie unser Führer!“ Diese ideologische Kehrtwende macht Pavlic gut nachvollziehbar – und das ist nicht wenig.
Pavlic wechselt oft die Tonart und das Erzählsetting. Auf eine von Dialogen geprägte absurde Passage, in der sich alles um eine Kartoffelkäferjagd (vgl. Leseprobe) dreht, folgen erklärende Einschübe der Ich-Figur oder empathische Schilderungen von Annemaries und Johanns Alltag. Historische Fakten werden dabei raffiniert eingebaut, etwa in Johanns Feldpost oder in Zeitungsartikel. Kriegserfahrungen, der Anblick von geschundenen Zwangsarbeiter*innen und weitere bittere Erkenntnisse führen im Lauf der Jahre zu einer kritischen Haltung Annemaries. Dass das Romandebüt nicht von einer unumstößlichen Wahrheit der zeitgeschichtlichen Ereignisse der 1. Republik und des NS-Regimes erzählt, macht es zu einer idealen Schullektüre.
In knapper, episodenhafter Form erzählt Pavlic von der Lebenswirklichkeit einer jungen Frau in Tirol und vom unausweichlichen Zugriff des politischen Terror- und Propagandaregimes auf das Individuum.