#Roman

Die Eistaucher

Kaska Bryla

// Rezension von Sabine Schuster

Everything can be used
except what is wasteful
you will need
to remember this when accused of destruction

Audre Lorde*

Bevor wir auch nur eine Zeile von Kaska Brylas neuem Roman Die Eistaucher lesen, deutet das vorangestellte Zitat der US-amerikanischen Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde, die sich selbst als „black, lesbian, feminist, mother, poet, warrior“ beschreibt, schon auf Schmerzhaftes hin. Liebe und Verrat, Zerstörung und Schuld bilden das dunkle Zentrum dieser Geschichte, die anscheinend harmlos in einer katholischen Wiener Privatschule beginnt und zwanzig Jahre später auf einem einsamen Campingplatz in einem polnischen Naturschutzgebiet endet. Hügel, Wälder, wilde Tiere und die Gräber entlang der Grenze, dort lebt Saša mit seinen Erinnerungen, bis ein geheimnisvoller Fremder auftaucht, Fragen stellt und das Erzählen in Gang setzt.

Tief unter dem Eis ruht die Seele der Welt

Sašas Perspektive eröffnet den Roman und ist als Countdown angelegt: Neun Kapitel, rückwärts nummeriert, nähern sich in Bruchstücken jenem Tag, der das Leben eines jugendlichen Freundeskreises aus den Angeln hebt. Ein zweiter Erzählstrang verläuft in die Gegenrichtung, ebenfalls in neun Kapiteln, mehr oder weniger linear, und präsentiert multiperspektivisch die Erlebnisse der Jugendlichen. Dabei verschmelzen ihre Stimmen zu einem kollektiven Bewusstseinsstrom, in dem man sich beim Lesen schon einmal verlieren kann, obwohl die einzelnen Charaktere außergewöhnlich prägnant sind.
Wir begegnen zuerst Iga, der Skaterin, auf dem Weg in ihre neue Schule, dann der schönen Jess und dem pummeligen Rasputin, genannt Ras. Sie sind Außenseiter/innen in ihrer Klasse, doch gemeinsam bilden sie eine verschworene Gruppe, die unzertrennlichen Eistaucher. Den Namen hatte Ras vorgeschlagen und Iga und Jess hatten ihn angenommen. „Unter das Eis tauchen. Etwas unter dem Eis hervorholen.“, das passte zu ihnen. (303) Eine Zeit lang bilden die Drei eine Allianz mit der Avantgarde, zu der neben Jess der „Rilke-Rainer“ und der „schöne Sebastian“ gehören. Rainer und Sebastian treten stets zusammen auf und führen Dialoge in Verszeilen, ihre Begeisterung für Rainer Maria Rilke, Arthur Rimbaud und Ingeborg Bachmann erscheint ebenso extravagant wie Igas Liebe zur Mathematik, Jess‘ radikal körperbezogene Wahrnehmung und Ras‘ paranormale Veranlagung, die er mit der Figur des Horla** von Guy de Maupassant begrifflich zu fassen versucht.
Als die Freunde eines Nachts Zeugen eines brutalen Polizei-Übergriffs werden und dabei in einen Abgrund schauen, der sie wütend und ohnmächtig zurücklässt, beschließen sie, das Recht selbst in die Hand zu nehmen. „Niemand hat das Recht zu gehorchen“, formuliert Jess, „Wir haben eine Verantwortung, (…) die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass sie es nicht wieder tun. Und diese Verantwortung haben wir, ganz gleich, ob irgendein Gericht sie verurteilt oder nicht.“ (304)
„Ohne Poesie keine Welt“ steht auf den Plakaten, die sie zuvor heimlich in der Stadt affichiert haben, und es sollte nicht nur ein Spruch sein, die Avantgarde war zu mehr bestimmt, auch zu mehr als dem Kleistern von Plakaten. „Sie waren die Vorreiter einer neuen Zeit, sie waren hier, um die Welt zu verändern.“ (280)
Doch an dieser Stelle trennt sich die Gruppe, „Ich bin hier raus“, meint Rilke-Rainer, der behütete Sohn aus noblem Haus, der beim Spruch „Ohne Poesie keine Welt“ an die Lyrik seines Großvaters denkt, nicht an Revolution. Angesichts der beiden Polizisten, die mitten in der Nacht ein bewusstloses Mädchen die Straße hinunterschleifen und im Schnee ablegen, bekommt er weiche Knie. Sein Freund Sebastian folgt ihm wortlos.
„Wenn Eisschollen aufeinanderkrachen, ist das Geräusch dumpf, aber durchdringend. Das Geräusch lässt keinen Zweifel darüber, dass eben etwas Bedeutendes geschieht. Bricht allerdings eine Scholle entzwei, hört man nichts, und danach ist es, als hätten sie nie zusammengehört.“ (304)

Manischer Realismus

„Wenn alles plötzlich gleichzeitig passiert, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr auf einer linearen Skala liegen, sondern zu einem Knäuel werden, das sind ja auch Momente des Wahnsinns“, sagt Kaska Bryla im Literatur-Podcast Auf Buchfühlung. „Manischer Realismus“ nennt der Residenz Verlag ihr Schreiben entlang der Grenze zum Fantastischen. „Aus dem Nichts heraus“ (37) spricht eine Stimme zu Ras, ein wachsender Müllhaufen folgt ihm überallhin, im Wald hinter dem Campingplatz jagt ein unsichtbares „Etwas“ und Igas „Loaded Dervish Sama“ ist kein gewöhnliches Longboard, sondern eine Zeitmaschine. Iga und Saša fahren damit in die Vergangenheit und versuchen Dinge zu reparieren, fatale Entscheidungen rückgängig zu machen. Doch was ist richtig und was falsch, wie verhält es sich mit Schuld und Sühne, mit dem Horla und überhaupt mit der Zeit? „Das mit der Zeitreise muss man sich wie folgt vorstellen. Im Leben eines jeden Menschen gibt es Wendepunkte. Es funktioniert sehr mathematisch. An diese Wendepunkte bringt einen das Loaded Dervish.“ (250) Was in Science-Fiction-Filmen für jede Menge Action sorgt, mündet bei Kaska Bryla viel eher in philosophischen Fragen. Vor allem dann, wenn die Perspektive von Ras an der Reihe ist. Bei Rasputin, dem Seher, der später zum berühmten Dichter wird, scheinen alle Fäden zusammenzulaufen. „Sie sollen brennen!“, sagt die Stimme nach der Rettung des Mädchens, und Ras denkt dabei an den Horla und das brennende Haus: „Erst heute begriff er die Geschichte von Maupassant in ihrer Gesamtheit. Sie war souverän. Sie war visionär! Der Erzähler hatte die Welt durchschaut und war deshalb an ihr erkrankt. Alles fügte sich. Die Polizisten, der Strassi, der Hochleithner, die Fellbaum. Sie alle waren der Horla. Wegen ihnen würde der Müllberg niemals aufhören zu wachsen. Wegen ihnen lag Maja im Nebenzimmer mit einer Versehrtheit, die ihren Körper nie wieder verlassen würde. Wegen ihnen hatte sich die Avantgarde gespalten, aber ihn, Jess und Iga würde der Horla nicht auseinanderreißen. Alles hing mit allem zusammen und alles, das geschah, hing mit dem Horla zusammen.“ (306)

Wer kommt auf die Arche Noah?

Wie bereits in ihrem ersten Roman „Roter Affe“ verwebt Kaska Bryla eine packende Kriminal-Story mit gesellschaftspolitischen bzw. moralischen Fragen und einem feurigen Plädoyer für Solidarität, Freundschaft und Liebe. „Ich glaube, ich könnte gar nicht anders denken als in kollektiven Zusammenhängen“, lautet ein vielzitierter Satz der Autorin, die ihre Romane gerne im eigenen Lebensumfeld spielen lässt. „Homosexualität, queerer background, Figuren aus sozialen Randgruppen sind dem geschuldet, wer ich bin, wie ich lebe, was mich umgibt. Das ist meine Normalität und die Normalität von vielen Menschen, trotzdem wird es als das Besondere gehandhabt. Gegen diesen Stempel des Besonderen will ich anschreiben, indem ich es als das Normale präsentiere.“ (Auf Buchfühlung)
So sind die jungen Held/inn/en in den Eistauchern völlig frei bei der Suche nach ihrer sexuellen Identität: Jess‘ Ferienliebe ist ein Mädchen, Rainer liebt Jess, Sebastian liebt Rainer, Iga ihre Französischlehrerin, die Fellbaum, die von der ganzen Schule begehrt wird. Aber da ist noch Saša, Igas Kindheitsfreund, für den sie alles ist, seit seine Eltern bei einem Unfall gestorben sind. Hier stößt das ganze Gefüge an seine Grenzen: „Iga liebte die Fellbaum, und ich liebte Iga. Aber mit der Fellbaum und mit der Avantgarde begann sich alles zu verschieben. Man muss verstehen, dass so etwas kränkend ist. Erst ist man jemand, weil sie einen sieht. Je weniger sie einen sieht, desto weniger wird man. Bis man Gefahr läuft, ganz zu verschwinden.“ (190)
Sehr deutlich thematisiert die Autorin, die zwischen Wien und Warschau aufgewachsen ist, in Wien Volkswirtschaft und in Leipzig Literarisches Schreiben studiert und das Redaktionskollektiv PS-Politisch Schreiben mit gegründet hat, auch die Bedeutung von Migration und Klassenunterschieden für ihre jugendlichen Held/inn/en. Die Frage nach Zusammenhängen und Abhängigkeiten ist omnipräsent, wie viel jemand zu verlieren hat, bestimmt ganz klar den Handlungsspielraum der Figuren. Ras‘ Eltern sind neureiche Russen, die seinen Schulbesuch mit einer Spende erkauft haben. Igas Familie stammt aus Polen und während der Vater dort eine Firma aufbaut, soll bzw. darf Iga ihre Ausbildung in Wien beenden. Iga liebt ihren Vater, sie will jedoch ebensowenig zu ihm nach Polen ziehen wie ihre Mutter, in deren Leben es ganz offensichtlich andere Männer gibt. Das Geld für Jess‘ Ausbildung kommt von ihrem erfolgreichen Stiefvater, ihre Mutter ist Altenpflegerin, Jess soll einmal Anwältin oder Ärztin werden. Die Kinder sollen es besser haben, doch die Erwartungen an sie sind hoch. „Schussfest“, würde Ras‘ Vater sagen. „In dieser Welt musst du schussfest sein, wie ein Schäferhund im Krieg. Sonst wirst du aussortiert.“ (58)
Für Saša, den Täter, der in der Bibel Antworten darauf sucht, ob er überhaupt noch ein Mensch ist, sind die gesellschaftlichen Trennlinien unverrückbar, waren doch für die Arche Noah immer schon andere bestimmt: „Die Arche Noah ist verwirrend, weil alle anfangs glauben, das Schiff wäre auch für sie bestimmt. Dieses Schiff, das Raum und Zeit durchbricht wie das Loaded Dervish. Alle denken, auch sie kämen im Zweifel auf das Schiff.“ (81) Zahlreiche Zitate aus diesem Roman möchte man an die Wand hängen, um sie immer präsent zu haben. Etwa Igas Antwort auf die Frage, wofür es sich zu leben lohnt: „Die Liebe“, sagt sie, „Die Verbindungen, für die wir uns entscheiden. Was man zu riskieren bereit ist. Und das offene Herz.“ (233) Saša schüttelt darüber den Kopf, doch dann, nach dem Unglück, ist es genau das, was zählt, für immer. „Es gibt keine Zeit“, sagt die Stimme. (309)

Dank der vielen Perspektiven und der starken Energie der Figuren bleiben Die Eistaucher bis zur letzten Seite spannend und rätselhaft, ein Pageturner, den man verschlingt und dann noch einmal langsam lesen muss, weil so viel darin steckt. Eine unbedingte Leseempfehlung!

_______________
* „The Uses of Anger: Women Responding to Racism“ von Audre Lorde, in ihrem Buch Sister/Outsider, 1984

** Guy de Maupassant: Der Horla. Erzählung. Paris, 1887. (Der Horla ist ein unsichtbares Wesen mit hypnotischen Kräften, das den Willen des Protagonisten steuert und ihm im Schlaf die Lebenskraft aussaugt. Am Ende schließt dieser ihn ein und brennt sein eigenes Haus nieder.)

_______________

Kaska Bryla Die Eistaucher
Roman.
Wien: Residenz, 2022.
320 S.; geb.
ISBN 978 3 7017 17514.

Rezension vom 01.03.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.