Denn Theresas Großvater ist als lokaler Anführer des Republikanischen Schutzbundes in den Februaraufstand 1934 involviert und lange inhaftiert, seine Tochter Frieda übernimmt die sozialdemokratisch-antifaschistische Gesinnung, die sie vom Rest des Tiroler Dorfes unterscheidet. Noch Jahrzehnte später beehrt kein Ortsansässiger Friedas Begräbnis, „weil sie nicht auf den katholischen Friedhof gehört“ und in den Kriegsjahren den Deserteur Lukas aufgenommen hat. Dessen Vater wiederum nimmt Lukas erst richtig wahr, als er sechzehn Jahre alt und nach der Annexion Österreichs plötzlich zu Höherem bestimmt ist. Als er, der den Nazi nur schlecht und später den Kommunisten glaubwürdiger „spielt“, einrücken soll, wird er – offiziell zwecks Studienaufenthalt in der Schweiz – in einer Wohnung in Wien versteckt. Denn „die Zeitspanne zwischen meinem sechzehnten und zweiundzwanzigsten Lebensjahr war ein Kriegszustand, schon allein deshalb konnte ich keinen weiteren Krieg gebrauchen.“ Sein kriegsversehrter Freund Hans aber verrät ihn, und als das Versteck ausgehoben wird, tötet Lukas in Notwehr einen Gestapo-Gehilfen und flieht. Unterschlupf findet er schließlich bei der Schneiderin Frieda in Rinn in Tirol, wo er auf die Papiere seines Vaters wartet, um das Land verlassen zu können. Als Peer den neben der Kapelle des Anderl von Rinn – einem legendären Symbol christlichen Judenhasses – deponierten Pass aufliest und Frieda ihm eröffnet schwanger zu sein, macht er sich vor Kriegsende nach Frankreich davon.
Diese Polaritäten aus Defensivverhalten und Fluchtdynamik bestimmen auch Theresas Leben, das Erika Wimmer in strikter Kapitelabfolge alternierend mit Peers Vita erzählt. Dabei setzt sie mit Theresas erster Kontaktaufnahme in Frankreich ein und wechselt öfter aus der dritten in die zweite Erzählperson. Dem Zaudern beider Protagonisten vor einer möglichen Konfrontation unterlegt sie die Ursachenverstrickungen aus der Vergangenheit.
Glaubt Theresa bis zu Friedas Begräbnis noch, ihr Vater sei ein Nazi auf der Flucht, erfährt sie danach (durch Hans) den wahren Hintergrund und intensiviert ihre bisher erfolglose Suche. Mit Vaters alten Kriegszeitungen und in dessen Bett aufgewachsen, im Dorf als „Bastard“ stigmatisiert, verteidigt sie ihn gegenüber ihrer Mutter.
„Thres“ soll den Armutsverhältnissen der engen Provinz entwachsen, geht in Innsbruck zur Schule und dann, anstatt Biologie zu studieren, zur Stewardessen-Ausbildung nach München. Die berufsbedingte Ortsungebundenheit nutzt sie stets zur Ausschau nach dem Vater, sie beschäftigt internationale Detektive und wird mit jeder Kurzzeitbeziehung einsamer.
Diese polyglotten Männergeschichten wären einerseits zu wuchtig-bizarr und andererseits psychologisch zu simpel geraten, würde die Autorin nicht einen bitteren Erklärungsschub nachreichen: Ist Theresa von ihrem väterlichen Freund Hans bloß getäuscht worden, so hat sie der „Freundfeind“ Detlev gar seit ihrem zehnten Lebensjahr sexuell missbraucht. Und neben Traumatisierung und Verletzungen dringen mit ihm auch die Zäsuren ihres Vaters in Theresas Leben, denn der Sohn eines illegalen Nazis gibt ihr noch Mein Kampf zu lesen, ehe er selbst in der deutschen Neonaziszene untertaucht. Flucht und Trug durchziehen motivisch den Roman.
„Der Mensch hat eine Geschichte, aber wer lebt schon danach.“ Peer erschafft sich gar eine neue. Nachdem er vorerst Schiffe entladen, dann in einer Tuchfabrik nahe Montpellier gearbeitet hat, lernt er Danielle kennen und tischt ihr ein Märchen auf. Er habe als Hitler-Gegner aus Stuttgart fliehen müssen, seine Eltern seien bereits vor dem Krieg gestorben und hier in Frankreich habe er sich, mit einem französischen Pass aus dem Widerstand, eine neue Existenz aufgebaut. Sie heiraten, Jeanluc Cornu – wie er nun heißt – übernimmt das Geschäft von Danielles Vater, wird Bauunternehmer und errichtet ein Haus auf einer Anhöhe am Rande Montpelliers. Der Ehe entspringen zwei Kinder; Max, der studiert und Cornus Geschäfte übernimmt, und Laurence, die den multipel beeinträchtigten Philip allein großzieht. Nun, alt und entfremdet, fühlt sich Cornu am ehesten zu Philip hingezogen, neben den Hoffnungen werden auch die von Wimmer sehr plastisch gezeichneten Ausflüge nach Lodève immer seltener, dafür die Depressionen erbarmungsloser – „der Fremde im Kopf (…) ein Hund am ehesten“, auch leichte Wahnvorstellungen stellen sich ein.
Theresas Anruf lässt dieses von der Autorin in feinsten Nuancen durchleuchtete Seelenunheil kulminieren. Abermals fühlt Peer sich bedroht, taucht ab und plant gar seinen Suizid, während die von Panikattacken – der „Krakenkappe am Kopf“ – gepeinigte Tochter es schafft, sich penibel auf das vereinbarte Treffen vorzubereiten. Dass es zu dieser Begegnung ganz anders, aber dennoch kommt, gerät der Autorin zur etwas überkonstruierten Pointe am Ende des Romans.
Nach Gedichten zur Liebe (Schau ich hinüber zu dir 2008) deckt Erika Wimmer in ihrem neuen Roman minutiös die Verdrängung einer Liebe auf, klopft die aus Schuldgefühlen gespeisten Panzer von ihren Figuren und stellte deren Ausflüchte gegenüber. In einem zwischen Rück- und Vorausblick changierendem Erzählstil arbeitet Wimmer mit Gegensätzen – Detlevs Nazivater versus Theresas Deserteursvater bzw. Friedas sozialdemokratische versus Theresas anfängliche FPÖ-Gesinnung – und psychologischer Parallelisierung von äußeren wie inneren Fluchtbewegungen. Die Folgen dieser Rückzugsmanöver manifestieren sich im gesellschaftlichen wie auch familiären Nukleus, eine Überwindung – das zeigt der Roman trotz offenem Ende nachdrücklich – gelingt nur mittels Konfrontation, und Verantwortung bloß im Miteinander.