#Roman

Die Doderer-Gasse oder Heimitos Menschwerdung

Nadja Bucher

// Rezension von Andreas Tiefenbacher

Die titelgebende „Doderergasse“ befindet sich in der Großfeldsiedlung in Wien-Floridsdorf, wo mit einem Zentrum aus Hochhäusern, Haus der Begegnung, Kindergärten, Schulen, Pensionisten-Wohnhaus und Grünanlagen von 1966 an Gemeindebauten errichtet worden sind, in denen auch Isa und Marie aufwachsen, deren Entwicklung bis zum Ende der Volksschulzeit dieser in vier große Blöcke unterteilte, Geburt, Kindergarten, Schule und die Perspektive danach verhandelnde Roman erzählt.

Nicht nur werden die beiden schnell dicke Freundinnen, bei Marie kommt sogar das Gefühl auf, Isa, die mit Mutter und Meerschweinchen Ferdi in einer kleinen Wohnung lebt, sei so etwas wie ihr „Zwilling“. Sie selbst hat zwar kein Haustier, dafür aber Mutter und Vater um sich. Letzterer arbeitet als Nachtwächter und kümmert sich um ihre „mittägliche Versorgung“. Danach widmet sich Marie der Nachahmung des Schulunterrichts. Abends tragen die Eltern Jogging-Anzug oder Bademantel und es gibt Palatschinken, während im Fernsehen „Zeit im Bild“ läuft, das vom Atomreaktorunfall in Tschernobyl oder von der Besetzung der Hainburger Au berichtet.

Dieser Familienidylle steht die „unverzärtelte Hässlichkeit“ der Außenwelt gegenüber, die sich als verdreckter Treppenaufgang oder Mief im Stiegenhaus bemerkbar macht. Doch weder davon noch von versengten Geländern, beschmierten Wänden oder Spucke auf dem Sichtglas des Aufzugs lassen sich die beiden Mädchen irritieren. Genauso prallt der Dialekt des Stadtrands an ihnen ab, der aus asozialen Hofkindern, die sich als Karli und seine Bande formieren, herausbellt, was Isa und Marie mit ihrem an der Hochsprache orientierten Idiom „gleich zu etwas Besserem“ macht. Und ganz zu diesem Eindruck passend, der unverblümt geäußert wird: „Wieso redn die so deppat?“, entwickeln sie sich zu Vorzugsschülerinnen.

Aber nicht nur der Zugang zu Schreiben, Rechnen und Lesen bereitet den Beiden Freude, sie interessieren sich zunehmend auch für Bücher, Ballett, die neuen Hits von Cindy Lauper und Nena sowie für Walkman und Bravo, genauso wie die sich am Ende der Volksschulzeit ankündigende Adoleszenz ihre Neugier für das Gequietsche und Gerangel zwischen halbwüchsigen Burschen und Mädchen im Schwimmbad weckt, das sie „wie durch einen Feldstecher“ observieren.

Manchmal hat Marie den Wunsch, unter eine Tarnkappe zu schlüpfen und unsichtbar zu werden. Sie schluckt Pöbelei oder Diskriminierung aber nie einfach hinunter, auch wenn sie beim Vordrängen von Jugendlichen vor dem Schwimmbad-Buffet oder den anzüglichen Bemerkungen von Herren in knappen Badehosen und beachtlichen Bäuchen stumm bleibt. Dafür kontert sie die „Watschen“ eines Mitschülers, indem sie ihn mit festem Griff zum Röcheln bringt oder setzt sich gegen die körperlichen Übergriffe Karlis zur Wehr, dem sie per Ellbogen die Nase blutig schlägt.

Situationen, in denen sie ungerecht behandelt und gekränkt wird, erzeugen in Marie Wut, die solange kumuliert, bis eine Entladung unumgänglich scheint: Hätte ihr die unversperrt in der Lade liegende, schussbereite Dienstwaffe des Vaters während eines Spiels mit der Freundin beinahe irrtümlich ein tragisches Ende bereitet, das Isa noch Jahre später in Alpträumen plagt, glaubt Marie in den Sommerferien vor dem Eintritt ins Gymnasium, sich mit derselben von allen in ihr tobenden Widrigkeiten befreien und so endlich zur Ruhe kommen zu können. Die Autorin hebt hier zu einer spannungsgeladenen Schilderung der auf einen Showdown zusteuernden Ereignisse an, die beeindruckt.

Als kleines Kind hat sich Marie vor den um ihr Bett schleichenden Ungeheuern und der Vorstellung, außerhalb desselben „zum Fraß des Bösen“ zu werden, noch gefürchtet wie vor dem wilden Karli, der letztlich zu einem von der Drogensucht gezeichneten, erbärmlichen, alten Körper mutiert, an dem Maries Zorn keine Reibungsfläche mehr findet und sich daher in einem lautlosen Weinen entladen muss, während ihr klar wird, dass die Weichen eines Lebens von Anfang an auf einen Punkt hin ausgerichtet sind, vor dem es kein Entkommen gibt.

In einer vorbestimmten Bahn befindet sich auch Heimito von Doderer, der Marie von Anfang an begleitet. Sie weiß und spürt jedoch nichts von ihm, während er, der zehn Jahre nach seinem Tod in ihr wiedergeboren wird, in seiner Gemütslage reziprok von Maries Befinden abhängig ist. Denn wenn sie schläft, pausiert auch sein Bewusstsein. Er vermutet hinter diesem besonderen Umstand, auf engstem Raum in Lebensgemeinschaft mit einem Mädchen zu sein und die Welt durch ihre Augen zu sehen, aber eine höhere Absicht. Ja Doderer glaubt, seine Wiedergeburt diene nur dem Zweck, den am Ende seines ersten Lebens unfertig zurückgelassenen Roman No 7/III zum Abschluss zu bringen.

Doch die Suche nach Möglichkeiten, Marie seinen Willen aufoktroyieren zu können, gestaltet sich äußerst schwierig. Doderer will zwischen sich und Marie zwar eine „Symbiose in größerem Rahmen“ erkennen und stellt verschiedene Übereinstimmungen fest (auch er hat unter Wutausbrüchen gelitten, sich gegen unbequeme Kleidung gewehrt, nichts lieber als Schreibwaren begutachtet und Tagebuch geführt), ein richtiger Austausch auf gedanklicher oder sprachlicher Ebene gelingt allerdings nicht. Dennoch rückt Doderer weder vom Glauben an die „Gesetzmäßigkeit der Periodizität“ (1966 gestorben, 1976 wiedergeboren, 1986 Roman-Vollendung) ab noch von dem Glauben, maßgeblich an der Sensibilisierung seiner „Wirtin“ beteiligt zu sein. Auch dann nicht, als plötzlich aus Isa die Stimme von Adolf Loos zu ihm spricht, der ein ähnliches Schicksal teilt, seine neue Existenzform im Körper eines Kindes jedoch kritischer sieht, fragt sich Loos doch, was er im vorigen Leben verbrochen hat, um das hier erleiden zu müssen. Er empfindet sein Eingesperrtsein als Haftstrafe, deren Hauptaugenmerk auf dem Erkennen und Ertragen der eigenen Sinnlosigkeit liegt, während Doderer die „tantalischen Qualen“ mit der Undurchführbarkeit von Maries Präparation für seine Arbeit assoziiert.

Die Gespräche der beiden Männer, die sich im ersten Leben nie getroffen haben, heben sich kursiv vom übrigen Text ab. Man lernt darin einen hoffnungslos barocken, opportunistischen Antisemiten kennen, der mit Hilfe der Reichsschrifttumskammer seiner Erfolglosigkeit zu entfliehen gehofft hat, sowie einen sich als Ästhet und Wohltäter aufspielenden Vertreter der „Diktion der glatten Funktionalität“, der sich in seiner Verbannung an den kulturlosen Stadtrand im „Fegefeuer“ wähnt; davon überzeugt, dass sich die Dauer des Wiedergeborenseins nach der Schwere des Vergehens richtet.

Aus dieser gegensätzlichen Wahrnehmung speist sich einiger Unterhaltungswert. Dazu kommt das sprachliche Geschick der Autorin, die sich den manierierten, vertrackten, trockenen Erzählstil Doderers zu Nutze macht. Der aus einer Perspektive des nüchternen Beobachters erzählte Roman ist durchsetzt von gestelzten Ausdrücken, Fremdwörtern und Umschreibungen wie „Insigne der Bildung“ für Schultasche, hält aber auch sehr schöne Metaphern bereit: Da strahlen Einsichten wie „weißglühende Kohlen“ oder pappt der Schnee unter den Füßen „wie gestauchtes Mehl“.

Der Bericht über den Alltag zweier Mädchen in den 1970er und 80er Jahren überzeugt in seinen eindringlichen Milieustudien genauso wie durch seinen sentimentalitätsfrei dargestellten Coming-of-Age-Hintergrund und die dazwischen platzierte Kritik an Rollenbildern und diversen Klischees.

Schließlich entlarvt der Erzähler Doderer seine eigene Vorliebe für die berechnete Periodizität als Unsinn und Maries Deutsch-Schularbeit entpuppt sich als „auf flüssige sowie schlüssige Erzählweise, Spannungsbogen und den Knallmoment der Auflösung“ getrimmte Geschichte, genau so wie der Roman selbst, der damit einiges an Lesevergnügen bietet.

Nadja Bucher Die Doderer-Gasse oder Heimitos Menschwerdung
Roman.
Wien: Milena, 2020.
224 S.; geb.
ISBN 978-3-9031-8459-6.

Rezension vom 31.12.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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