#Prosa

Die Denkzettel des Herrn Seeburger

Michaela Jenny

// Rezension von Roland Steiner

Als Psychologin befasst sich Michaela Jenny, in Vorarlberg lebende Wienerin, mit den Problemen und psychischen Veränderungen im Alter. Krankheits- und traumabedingte Abweichungen von der Lebensnorm stellen denn auch den roten Faden ihrer Erzählung über das Ehepaar Seeburger dar. Der Morbus Alzheimer ihrer Protagonistin – auch Angelpunkt von Gudrun Seidenauers grandiosem Roman „Aufgetrennte Tage“ – wird hier jedoch nur peripher thematisiert.

 

Der 82-jährige Rudolf Seeburger und seine 79-jährige Gattin Feo bewohnen eine geräumige Mietwohnung in Wien-Döbling. Seit die veilchenblauäugige, mit Rudolf seit über fünfzig Jahren verheiratete Frau an einem fortgeschrittenen Alzheimertypus leidet, geht ihnen Frau Wukitza – wohl eine Abwandlung des slawischen Namens Vukica – als Haushälterin und Köchin zuhand. Erst auf das dringende Anraten des Hausarztes hin engagiert der „Herr Direktor“, der Bucherstausgaben sammelt, auch eine mobile Krankenpflegerin. Über den beruflichen Alltag dieses Arztes verrät die auktoriale und psychologisierende Erzählweise so manches, Feos Alltag und Vergangenheit bleiben aber unbeleuchtet. Zwar nimmt die Autorin verschiedene Perspektiven ein, macht jedoch vor ihrer das Handlungsgefüge prägenden, allerdings sprachlosen Protagonistin Halt.

Feo verlässt eines Novembertages alleine die Wohnung und wird angesichts ihrer Verwirrtheit in die Ambulanz des Geriatrischen Krankenhauses Gersthof eingeliefert. Auf der gerontopsychiatrischen Station, deren Personal und Abläufe allzusehr im Arztroman-Duktus beschrieben werden, soll sich die organisch gesunde Dame solange erholen, bis ein Platz in einem Pflegeheim gefunden wird. Rudolf ist von Selbstvorwürfen geplagt und von der Dringlichkeit der Lage überfordert. Auch fällt es ihm in seiner Fürsorglichkeit schwer, die geliebte Gattin nicht allzu häufig zu besuchen. Doch zur Transferierung kommt es nicht mehr, da Feo aus ihrem Bett stürzt, sich dabei den Oberschenkelhals bricht und tags darauf an Komplikationen stirbt.

Hier konstruiert Jenny nun die entscheidende Volte ihrer sprachlich klaren, in der Figurenzeichnung jedoch zu Klischees neigenden Erzählung: Der bis dato disziplinierte alte Herr sinnt nach süßer Rache. Ein Roman liefert ihm, dessen Vermögen zwei Nichten erben werden, die Anregung zu seiner „Denkzettel“-Aktion. Der Reihe nach setzt er seine kleinen Boshaftigkeiten am Stationspersonal um. Einer Schwester sticht er Feos Hutnadel in den Po, die Sozialarbeiterin bezichtigt er des Diebstahls und eine andere Schwester schubst er über die Stiege. Die erst glimpflich ausgehenden Streiche zur Vergeltung eines möglichen ärztlichen Kunstfehlers zaubern Überraschungsmomente in dieses schmale Buch.

Diese ‚psychologische Intervention‘ in die posttraumatische Altersdepression des Helden liest man mit Genuss. Umso mehr, als die Autorin bis zum Beginn des recht harmlosen Rachefeldzuges ihre Figuren allzu häufig expliziert und die innerhäuslichen Schauplätze bis ins Detail fotografisch ausleuchtet, sodass des Lesers Gabe und Lust zur Phantasie unterfordert werden.
Nachdem Rudolf beim Heurigen sogar einen betagten Freund veräppelt hat, leitet seine diebische Freude über die Entwendung des oberärztlichen Rezeptblockes eine ultimativ anmutende Tat ein – eine Tat, deren Ausgang nun doch in die Obhut der Leserphantasie gelegt wird.
Für ein Ausbrechen aus der (Lebens-)Routine ist es eben nie zu spät.

Michaela Jenny Die Denkzettel des Herrn Seeburger
Erzählung.
Hohenems, Wien: Bucher Verlag, 2009.
75 S.; geb.
ISBN 978-3-902679-21-5.

Rezension vom 20.05.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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