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Die Bienen und das Unsichtbare

Clemens J. Setz

// Rezension von David J. Wimmer

Zu den all-entlegensten Zonen der Literatur

Es ist wieder einmal ein eigenartiges Buch geworden, das Clemens J. Setz da abgeliefert hat. Eigenartig im Verhältnis zu einem Großteil der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur, aber auch innerhalb des ohnehin schon eigenartigen Werks des österreichischen Autors. Von Setz ist man lange, formspielerische Romane gewohnt oder kafkaeske Kurzgeschichten, immer gekennzeichnet von einer ausgeprägten Lust am Fabulieren und stets die eigene Fiktionalität im Auge behaltend. In Die Bienen und das Unsichtbare widmet sich der diesjährige Kleist-Preisträger nun dem Phänomen der Plansprachen und stützt sich dabei weitgehend auf dokumentarisches Material, das er in sechsjähriger Arbeit zusammengetragen hat.

Und in der Tat bekommt man als Leser*in immer wieder einen Eindruck von der umfangreichen Recherche, die hinter diesem Band steckt, wenn sich Fußnoten über eine halbe Seite erstrecken oder tabellarische Vokabellisten das Schriftbild prägen. Dabei ist Die Bienen und das Unsichtbare keine wissenschaftliche Abhandlung oder ein Sachbuch geworden, sondern eine poetische Annäherung, ein Hybrid, der über 400 Seiten spielerisch zwischen Genres und Formen springt. Setz verbaut Interviews, Tagebucheinträge und etliche Gedichte, erzählt anekdotisch aus dem eigenen und anderen Leben und streut dazwischen immer wieder Exkurse zur Bauweise und Grammatik einzelner Plansprachen. Und von diesen kennt der Autor eine ganze Menge. „Esperanto“ oder „Volapülk“ sind wohl den meisten bekannt, doch der Band lenkt den Blick auch auf exotischere Erfindungen wie das hochkomplexe „aUI“ oder das auf Eindeutigkeit getrimmte „Lojban“.

Die Erzählerfigur Clemens Setz nähert sich diesen Sprachen immer aus der Perspektive eines interessierten Außenstehenden. Er gibt sich als nerdiger Enthusiast und eifriger Entdecker, der den Prozess der Nachforschung mit all seinen Abzweigungen, Irrwegen und Sackgassen klar als persönliche Annäherung offenlegt. Dadurch entsteht jene subjektive Unmittelbarkeit, die man auch aus Setz‘ Erzählwerken kennt. Denn auch Die Bienen und das Unsichtbare ist in großen Teilen Erzählung.

„Plansprachen sind immer Autobiografien“, heißt es einmal im Text und die ereignisreichen und zum Teil bizarr abenteuerlichen Lebensgeschichten einiger der schillerndsten Figuren aus der Welt der erfundenen Sprachen bilden immer wieder die narrativen Ankerpunkte, anhand derer uns Setz eben diese Welt erklärt. Setz erzählt von Karl Kaisel Blitz, besser bekannt als Charles Bliss, und seiner auf jegliche Lautlichkeit verzichtenden Symbolsprache „Blisssymbolics“, die zwar nicht den intendierten Weltfrieden herbeiführte, dafür aber für unzählige körperlich beeinträchtigte Kinder eine erste Möglichkeit der sprachlichen Kommunikation darstellte; vom exzentrischen Sprachgenie James Keilty, der lange Zeit als einziger Sprecher seiner eigenen, ebenfalls utopisch angelegten Plansprache „Prashad“ dahinlebte und darin etliche literarische Texte und auch Theaterstücke schrieb; von Johann Martin Schleyer, dem papstgleichen Erfinder der ersten weltweit verbreiteten Plansprache „Volapük“; vom Königreich „Talossa“, das im Schlafzimmer eines 14-Jährigen seinen Ausgang nahm und über das Internet bald weltweit Anhänger fand. Auch Peter Handke, Ernst Herbeck und H.C. Artmann begegnen einem in den oft weitreichenden Abschweifungen, die sich immer um Findung neuer Sprechweisen und Sprachformen drehen. Allen voran erzählt Setz jedoch die Lebensgeschichte des blinden Poeten, Anarchisten und Esperantisten Vasilij Eroschenko (auch Wassili Jersochenko), der als polyglotter Einzelgänger und nomadischer Draufgänger ein mehr als romanwürdiges Leben führte, das mehrfach emblematisch für die Existenz erfundener Sprachen in der heutigen Welt steht.

So ist die Geschichte der Plansprachen, ihrer Sprecher und Dichter immer auch eine Geschichte über Isolation und Einsamkeit. Die Anekdoten und biografischen Schnipsel, aus denen sich der Band in großen Teilen zusammensetzt, entstammen den Leben besonderer und eigenartiger Menschen, die sich auf die eine oder andere Art in Zuständen gesellschaftlicher Isolation zurechtzufinden hatten. Mehr als einmal mag man das Gelesene für eine raffinierte Erfindung des Autors halten, doch auch intensivste Internetrecherche zu den absurdesten Details fördert wieder das faktische Fundament zutage, auf das Setz hier kunstvoll seine Ausführungen baut. Schon das erste Kapitel, in dem Setz das Lebensschicksal einiger an Zerebralparese leidender Kinder thematisiert, liest sich in Teilen wie eine Kurzgeschichte aus den Erzählbänden Setz‘: Stets bei vollem Bewusstsein sind diese Kinder zu einem Leben als „Gemüse“ verdammt, ohne Möglichkeit zum sprachlichen Ausdruck, bis sie mit Blisssymbolics in Berührung kommen und teilweise sogar in dieser Symbolsprache zu dichten beginnen. Sie entkommen ihrer Isolation, sie finden aus ihrer ansonsten existenzumfassenden Krise. Und auch in anderen Beispielen, die Setz anführt, nehmen erfundene Sprachen eine ähnliche Rolle ein, wenn auch nicht immer mit einem derart positiven Ausgang. Ob bei dem amerikanischen Science-Fiction Autor Samuel, den schon erwähnten Spracherfindern James Keilty und Charles Bliss oder auch bei der Esperanto-Dichterin Spomenka Štimec – in all den Biografien dieser Dichterinnen und Dichter verschränkt sich die Beschäftigung mit Kunstsprachen mit persönlichen Notsituationen. Krisen und Sprach(er)findung gehören bei Setz zusammen, und so erkennt er auch die eigene Beschäftigung mit der Thematik als Symptom einer persönlichen Sinnkrise, die er in etlichen Montagen eigener Tagebucheinträge als einen „Sommer in Volapük“ nachzeichnet.

Das Erfinden von Sprachen oder das Dichten in ihnen erscheint dabei mehrmals als ästhetische Bewältigungsstrategie, die auch grandios misslingen kann, wie Setz selbst zu berichten weiß. Und dennoch schwingt in diesem Buch der unerschütterliche Glaube an die Poesie und die Wirkmacht der Sprache, die uns Setz in unzähligen Anschauungsbeispielen als sprachübergreifende Universalie vor Augen führt. Denn kaum eine der vorgestellten Plansprachen weist nicht zumindest eine nennenswerte Dichterin oder einen nennenswerten Dichter auf, egal wie klein die Anzahl der in ihr kundigen Sprecher auch ist. Als Patron dieser „all-entlegensten Poesie“ beweist Setz auch sein außerordentliches Talent für literarische Übersetzungen, denn gut die Hälfte der Gedichtübersetzungen, die er in diesem Band präsentiert, stammen von ihm selbst. Und viele von ihnen, man mag es mir glauben, sind prächtig geraten, allen voran das wunderbare Froschquartett.

Eine der größten Qualitäten dieses Buchs ist es schließlich, dass sich der Autor in all der Materialfülle, aller Sprachverliebtheit und bei allen „Fanboy-Plappereien“ nie bloßer Schwärmerei hingibt. Setz weiß mit Pathos umzugehen und er weiß auch, wo Brüche zu setzen sind, wenn seine märchenhaften Anekdoten wieder einmal auszuufern drohen. Da verzeiht man auch gerne umfangreiche Ausführungen über grammatische und phonetische Besonderheiten einzelner Plansprachen oder seitenweise Lyrik in vermeintlichem Gibberish. Man findet vielleicht sogar Gefallen daran, indem man laut mitliest, versucht alles richtig zu betonen und gebannt darauf wartet, was sich hinter den wohlklingenden Lauten verbirgt. Man lernt dabei neue Begriffe und Konzepte, nach denen man sich die Welt neu ausdeuten will. So hilft dieses Buch auch mit bei der Aufweichung der Isolation, die es oftmals beschreibt, indem es Eingang gewährt in diese entlegensten Zonen der Literatur.

Die Bienen und das Unsichtbare.
Literarischer Essay.
Berlin: Suhrkamp, 2020.
416 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-518-42965-5.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 26.10.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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