#Roman

Die Beseitigung meines Dorfes

Florjan Lipus

// Rezension von Klaus Kastberger

Was der Titel suggeriert, trifft zu: Thema und Zentrum von Florjan Lipus‘ Roman ist das Dorf, das nun aber (anders als in den meisten Dorfromanen) nicht in psychologischer, sondern in soziologischer Perspektive erscheint. Die Beseitigung meines Dorfes entwirft ein modellhaftes Bild vom Leben am Land: Wie das Dorf selbst (das nur einfach als „das Dorf“ bezeichnet wird) erscheinen auch die Personen im äußersten entindividualisiert, sie tragen keine Namen. Alles reduziert sich auf die Funktion, die es in der Dorfgemeinschaft hat: Die Personen treten als Sänger und Bestatter auf, als Pfarrer und Chorleiter, als Bauer und Knecht, als Wirt und Säufer, als Jungfer und Greisin, als Mann und als Frau.

Das einzige Element, das dem Dorf zum klaglosen Funktionieren seiner selbst fehlt, ist gleichzeitig jenes, das den Roman trotz all seiner sterilen Funktionalität so makaber macht. Dieses fehlende Glied wird gleich in den ersten Sätzen des Romans benannt: Dem Dorf fehlt (schlicht und einfach) ein Toter; zu lange ist in diesem Dorf niemand mehr gestorben.

Das Warten auf den nächsten Toten zieht sich bis zum letzten Kapitel hin. Aus ihm erwachsen dem Dorf, der eigentlichen und einzigen Hauptperson des Romans, anthropomorphe Züge. Die Ähnlichkeit von Florjan Lipus‘ Schreiben mit jenem von Elias Canetti wird gerade an diesem Punkt evident: Hier wie dort geht es um eine Analyse von Machtstrukturen, denen – um sie begreiflich zu machen – ein menschliches Antlitz gegeben wird. Das Dorf des Florjan Lipus droht sein Gesicht gleich von Beginn an zu verlieren; die „Dörfer mit Arsch und Gesicht“ lassen ein solches Dorf, ein Dorf, das zu lange ohne Toten bleibt, rasch einmal hinter sich.

Was also tut ein Dorf in dieser Situation? Es sucht sich mögliche Kandidaten für den nächsten Sterbefall aus; wie Optionen zur Belebung der Heiterkeit und zur Förderung des gemeinschaftlichen Miteinanders werden diese gehandelt. Im achten und letzten Kapitel des Buches ist es dann soweit. Das Textstück trägt den Titel „Ländliche Idyllen“ und stellt eines der ambivalentesten und damit auch besten Beispiele des nicht eben einfachen Genres der Idylle dar.

An diesem Punkt angelangt, werden die breitgefächerten Dimensionen von Lipus‘ Schreiben greifbar: Die Dorfgemeinschaft hat sich in ihrer ganzen sozialen Vielfalt repräsentativ am Marktplatz versammelt, wo (eine gute Hoffnung für einen Todesfall) eine verunglückte Bäuerin darniederliegt.
Das gemeinschaftliche Zusammenstehen löst eine kollektive Erinnerung aus: Diese hat die Rückführung einer Urne zum Gegenstand, die die Asche zahlreicher Dörfler enthielt. In dieser Urne liegt gleichzeitig auch der Grund für das lange Ausbleiben der Toten im Dorf vor; für einen langen Zeitraum wurde die Toten des Dorfes anderswo, nämlich in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, gemacht.

Florjan Lipus Die Beseitigung meines Dorfes
Roman.
Aus dem Slowenischen von Fabjan Hafner.
Klagenfurt: Wieser, 1997.
247 S.; geb.
ISBN 3-85129-199-9.

Rezension vom 17.11.1997

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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