#Roman

Die Bagage

Monika Helfer

// Rezension von Johanna Lenhart

Am Anfang von Monika Helfers Roman Die Bagage steht ein Bild. Ein Kind, so stellt man sich vor, malt uns den Schauplatz: „Hier, nimm die Stifte, male ein kleines Haus, einen Bach ein Stück unterhalb des Hauses, einen Brunnen, aber male keine Sonne, das Haus liegt nämlich im Schatten!“ (S.7) Es malt uns auch die Figur, um die sich alles dreht, auch wenn man sie nur mit einem zugedrückten Auge als Protagonistin bezeichnen kann: Maria, „eine aufrechte Frau“ (S.7), Großmutter der Erzählerin.

Maria wohnt mit ihrer Familie, ihrem Ehemann Josef und der im Laufe der Geschichte größer werdenden Kinderschar, in ärmlichen Verhältnissen am äußeren Rand eines Vorarlberger Dorfes, in einem  „Tal, das einfach nur der Wald genannt wurde“ (S.19). Die Familie wird „die Bagage“ (S.12) genannt und befindet sich so schon dem Namen nach ganz unten auf der sozialen Leiter des Dorfes. Und Maria ist schön, so schön, dass ihre Schönheit landauf, landab bekannt ist, so schön, dass sich die männlichen Begehrlichkeiten des Dorfes um sie scharen wie die Fliegen um den Mist: „Im hintersten Tal war es nicht günstig für eine Frau, schön zu sein.“ (S.40)

Nicht der Roman, aber die Geschichte, die erzählt werden soll, setzt mit der Zustellung des Einberufungsbefehls für Josef ein. Er ist einer der ersten im Dorf, die es trifft – der Erste Weltkrieg erreicht den Bregenzerwald. Josef, vor das Problem gestellt, seine Frau alleine lassen zu müssen, beauftragt den Bürgermeister des Dorfes, auf sein Hab und Gut und seine Frau aufzupassen. Aufzupassen, dass „keiner zu ihr hinaufgeht“ (S.15). Der Bürgermeister jedoch wird schon am ersten Tag nach Josefs Weggang anzüglich, später übergriffig und gewalttätig, bleibt aber die längste Zeit ein wichtiger Lieferant von überlebensnotwendigen Lebensmittelpaketen. Der Briefträger dagegen himmelt Maria aus der Ferne an und der norddeutsche Georg, der so auffällig „nach der Schreibe“ (S.50) spricht, besucht sie in ihrem Haus. Maria ist dabei nicht nur passiv, sie kokettiert, wenn es ihr Spaß macht, weiß ihre Ausstrahlung einzusetzen, wenn sie etwas braucht. In Georg verliebt sie sich gar, wohl wissend, dass es zu nichts führt, denn „Gefühle verduften, nur in Romanen halten sie angeblich länger, in manchen Romanen angeblich ein ganzes Leben lang.“ (S.58) Allerdings nicht in diesem Roman, hier bleibt nur der kurze Traum von einer großen Liebe – ein Traum, der auch gar nicht Marias Traum ist, sondern jener der Erzählerin: „Ein Traum, eine Minute, und schon nicht mehr geglaubt. Ich, die ich den Traum ausdenke und niederschreibe, glaube länger daran als Maria. Ich weiß nichts von den Träumen meiner Großmutter.“ (S.68) Ein  Bruch in der Erzählung, wie Helfer ihn immer wieder einsetzt, der zugleich entschiedene Distanz und – paradoxerweise – große Nähe entstehen lässt.

Josef kommt ab und zu auf Fronturlaub und irgendwann ist Maria schwanger. Schwanger mit Margarethe, der Mutter der Erzählerin, mit der Josef sein ganzes Leben lang kein Wort wechseln wird, denn Gerüchte über die Vaterschaft ziehen ihre Kreise im Dorf.

Soweit die Geschichte. Erzählt wird sie von der Enkelin Marias, Monika Helfer selbst, in klar autobiografischer Haltung. Bei der Rekonstruktion der Geschichte geht sie dabei nicht chronologisch vor, ist ungeduldig, will alles zugleich erzählen und weiß auch, dass Erinnerung und Ordnung nicht zusammengehen: „Eine Ordnung in die Erinnerung zu bringen – wäre das nicht eine Lüge? Eine Lüge insofern, weil ich vorspielen würde, so eine Ordnung existiere.“ (S.55) Ähnlich verhält es sich auch mit der Wahrheit. Sie ist abhängig von der Perspektive und der jeweiligen Erinnerung, auch der eigene Blickwinkel ist lückenhaft. Helfer macht aus diesem Umstand keinen Hehl. Immer wieder verweist sie auf die Fiktionalität des Erzählten, das Lückenfüllen, das sie betreibt. Lücken, für die es keine Quellen, keine Zeugen gibt: „Halt! Ich muss hier unterbrechen. – Über dieses Gespräch […] ist viel in unserer Familie spekuliert worden. Jeder hatte eine Geschichte parat, keiner wusste genau, wie es gewesen war.“ (S.125) Daraus entsteht eine Stimmung der Zwischentöne. Nichts ist fixiert, Tür und Tor für Vermutungen weit offen.

Sprünge in der Chronologie gibt es nicht nur in der Geschichte von Maria, man springt auch immer wieder hinein in das Leben der Erzählerin und auch in das Leben anderer Familienmitglieder. Die Frage „Was hat das mit mir zu tun?“ – „Wann und wo endet die Bagage?“ (S.96) –  wird ständig verhandelt, die eigene Position im familiären Gefüge ausgelotet. So sind hier eigentlich zwei Erzählungen mit zwei Protagonistinnen ineinander verwoben, die Lebensgeschichte Marias als allgegenwärtiger familiärer Referenzpunkt und der Bericht über eine Spurensuche.

In trockener Klarheit geschrieben, ohne großes Aufheben, eigenartig distanziert und doch mittendrin – im wahrsten Sinne des Wortes – erzählt Monika Helfer von der Geschichte ihrer Familie. Helfer präsentiert hier einen Heimatroman, in dem nichts beschaulich oder romantisch ist. Ohne Selbstmitleid oder Dramatisierungen berichtet sie von Hierarchien und Abhängigkeiten, aber auch von Resilienz und Zusammenhalt unter widrigen Umständen, vom Fluch und Segen der Herkunft.

Monika Helfer Die Bagage
Roman.
München: Carl Hanser, 2020.
160 S.; geb.
ISBN 978-3-446-26562-2.

Rezension vom 28.04.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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