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Die Asche meiner Schwester

Cornelia Travnicek

// Rezension von Silvia Sand

Außer dem Titel erinnert nichts an den 1996 erschienenen Bestseller von Frank McCourt Die Asche meiner Mutter (im Original: Angela’s Ashes). Während McCourts Mutter Angela in der kalten Asche des häuslichen Kamins stochert, als Symbol für die Armut des Haushalts, wird bei der jungen niederösterreichischen Autorin Cornelia Travnicek die Asche der Schwester im Wind des marokkanischen Rif-Gebirges verstreut, als Symbol für die Lösung von der Vergangenheit. Prolog, Epilog und eine durch das zarte Bild einer Calla – Symbol einer Totenblume – in drei ungleiche Abschnitte geteilte Erzählung weisen den vorliegenden Roman als wohlüberlegte Konstruktion aus.

„Als Kind saß ich oft lange still und bewegte mich nicht, verwundert darüber, wie gut die Welt auch ohne mich funktionierte.“ (S. 7) und „Unsere Erinnerung ist ein einsamer Hof hinter hohen Mauern. Aber immer kehren wir wieder, um Hand an unsere Erinnerungen zu legen.“ (S. 143) sind Zitate aus Prolog und Epilog, zwischen denen Cornelia Travnicek ihre Erzählung anlegt. Die Austauschbarkeit von Schicksalen und das Infragestellen von Erinnerungen sind die Kernideen der Autorin, die sie mit unterschiedlichen Erzählhaltungen in den verschiedenen Romanabschnitten untermauert.

Sowohl der erste als auch der dritte Teil sind aus der Perspektive der Ich-Erzählerin geschrieben, wobei es eine zeitliche Entwicklung von der Jugendlichen zur Erwachsenen gibt. In allen Teilen wird das ungleiche Kräfteverhältnis zwischen den beiden Schwestern als Kernproblem dargestellt. Nach dem Verlust der Mutter (durch welchen Umstand bleibt offen) ist der Vater nicht in der Lage, die Familie zusammenzuhalten – zu tief verlaufen die Gräben zwischen der „starken“ und der „schwachen“ Schwester. Diese Positionen werden zementiert und nach einem traumatischen Liebeserlebnis wandelt sich das gegenseitige Unverständnis zur Feindschaft.

Der Mittelteil erzählt von einem fernen Land, in dem ein junger Mann namens Joshua eine Frau kennenlernt, die – wie sich erst langsam herausstellt – die Schwester der Ich-Erzählerin ist. Es ist die „schwache“ Schwester, die sich vom kleinkindhaften Quälgeist zu einer widersprüchlichen Erwachsenen entwickelt hat.

Der dritte Teil hebt sich im Erzählton merklich ab. Wieder spricht die „starke“ Ich-Erzählerin, jedoch in einem veränderten Ton. Von negativen Erfahrungen geprägt, hat sich ihre ursprüngliche Kraft in Härte gewandelt. „Mein zweites Gesicht liegt in den Tuben und Puderdosen bereit, ich ziehe es auf, wie ein Maurer eine Wand.“ (S. 61) Distanzierte Ironie lässt durchblicken, dass es sich um eine beschädigte Psyche handelt, die um jeden Zentimeter Selbstbewusstsein kämpft: „Wer auf gut fünfzehn Zentimeter Absatz gehen kann, kann alles. Vor allem auf die meisten Männer hinuntersehen und ihnen das Gefühl geben, doch ziemlich klein zu sein.“ (S. 62)

Was bisher in der Erzählung logisch aufgebaut wurde und auf den Fortgang neugierig macht, geht im Laufe des dritten und umfangreichsten Teils verloren. Fast zwei Drittel des Buches umfasst die Beschreibung einer Autofahrt nach Marokko, die sich großteils auf das pure physische Fortkommen und auf das Bild des Süßigkeiten fressenden Joshua auf der Autorückbank beschränkt. Zwischen den beiden, die sich nur zufällig über den Tod der Schwester gefunden haben, kommt kein Gespräch in Gang und auch die kleinen Erinnerungen an das Familienleben von früher bringen keine Erhellung in die Gedankenwelt der Erzählerin. „Außerdem war ich ein ruhiges Kind, sie dagegen hatte eine zerstörerische Ader, und alle meine Spielzeuge, sorgsam gehütet, bis sie in ihre Hände kamen, trugen schwere Spuren davon.“ (S. 112)

Auch die direkte Befragung Joshuas bleibt unergiebig: „Ach, vergiss es.“, sagt er und die Ich-Erzählerin denkt: „Eigentlich will ich auch nicht wissen, ob sie es ihm erzählt hat.“ (S. 85) Schade, denn als LeserIn wüsste man gerne mehr über das Innenleben der handelnden Personen. Auf diese Weise bleibt alles an der Oberfläche und die Motivation für die gemeinsame strapaziöse Reise ist aufgrund der Wesensfremdheit der beiden Reisenden nicht nachvollziehbar.

Zwar versteht man, dass der Psychologe Joshua als Bindeglied zwischen den beiden Schwestern fungieren soll, doch wirkt er wie ein kindischer Verantwortungsverweigerer, der nichts zur familiären Vergangenheitsbewältigung beitragen kann. Selbst am Ziel der Reise befasst sich die Erzählerin lieber mit Soukh-Besuchen als mit ihrer verstorbenen Schwester und daher wird die Beziehung zu ihr wohl in den Kinderschuhen stecken bleiben. Manche Metaphern vermitteln den Eindruck, als wäre die Erzählung nicht ganz ausgereift: „Die Wüste macht ihren trockenen Mund auf und verschluckt uns. In ihr gibt es nichts, um den Blick daran festzumachen.“ (S. 123)

Damit, dass die ungleichen Reisenden doch noch ein Paar werden, wollte die Autorin vielleicht beweisen, dass man durch die Austauschbarkeit eines jeden Einzelnen „wohl mit einer ziemlich großen Menge an Menschen ziemlich glücklich sein“ kann (Prolog, S. 8).

Der 1987 in Niederösterreich geborenen Cornelia Travnicek wurde aufgrund des ebenfalls 2008 erschienenen Erzählbandes Aurora Borealis viel Talent beschieden, und mit einer intensiveren Ausarbeitung ihrer Ideen (und einem anderen Titel) hätte auch Die Asche meiner Schwester ein originelles Buch werden können.

Die Asche meiner Schwester.
Roman.
St. Pölten: Literaturedition Niederösterreich, 2008.
143 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-901117-98-5.

Homepage der Autorin

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 18.11.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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