#Roman

Die Annäherung

Anna Mitgutsch

// Rezension von Alexander Kluy

Vater. Tochter. Stiefmutter. Seine Vergangenheit als Soldat im Zweiten Weltkrieg, Jahrzehnte lang verschwiegen. Und ein in der Familie allgegenwärtiger Tod. So moribund und klischeebeladen das klingen mag, die in Linz lebende, vielfach ausgezeichnete Romancière und kluge Essayistin Anna Mitgutsch – letzteres bewies sie wieder 2014 mit ihrem Band „Die Welt, die Rätsel bleibt“ – transformiert diese Konstellation mit großer dramaturgischer Sicherheit zu einem Roman über eine Familie, das 20. Jahrhundert, das Beschweigen und Vergessen, das Schämen und das Zugeneigtsein, und am Ende tatsächlich über das Sich-Annähern.

Theo, pensionierter Gärtner, ist 96 Jahre alt und hat gleich zu Anfang einen kunstvoll geschilderten Schlaganfall, von dem er sich nach relativ kurzem Spitalsaufenthalt wieder vollständig erholt. Frieda, seine Tochter, über 60 und vormals Mittelschullehrerin für Geschichte in einer Kleinstadt, aber mit der Pensionierung wieder zurückgezogen in die Stadt, in der sie aufwuchs und in der ihr Vater im eigenen, nicht allzu großen Hause lebt, besucht ihn nunmehr wieder regelmäßig, argwöhnisch beäugt von Theos zweiter Frau Berta. Mit Berta ist Theo an die 50 Jahre verheiratet, nachdem Wilma, seine erste Gattin und Friedas Mutter, recht früh starb. Das Verhältnis von Vater und Tochter ist Jahrzehnte lang zerrüttet gewesen. Zusätzlich angefeuert hat diese Entfremdung Berta. Berta, die überschaubar intellektuell Interessierte, die eher Instinkten vertraut, die Praktische, die subkutan Manipulative, die Theo ihr Lebensmodell subtil aufzwang. Nur bei einem hatte er sich von Anfang an verweigert: bei ihrem eigenen Kinderwunsch. Nun, im Alter, werden die Differenzen immer deutlicher, tritt das Auseinandergelebtsein immer stärker zu Tage. Und Frieda, die Ungestüme, die undiplomatisch Temperamentvolle, sorgt zusätzlich für Unruhe bei ihm, der sich so sehr für den eigenen Garten, fürs Anlegen, Pflanzen, Hegen und Pflegen von Pflanzen interessiert und weitaus weniger für das Hegen und Pflegen von Menschenbeziehungen.
Nachdem Berta selber einen Herzinfarkt erleidet, von dem sie sich leidlich erholt, holen sie eine Hilfe ins Haus, eine patente Enddreißigerin, die Ukrainerin Ludmila, freundlich, sympathisch, aber illegal im Lande. Und Letzteres nutzt Berta dann immer stärker und stetig bösartiger aus. Denn durch Ludmilas Nähe, die Aufmerksamkeiten und die gute, ja zärtliche Pflege blüht Theo wieder auf. Aus Eifersucht vertreibt Berta Ludmila aus dem Haus, sie kehrt zurück in ihr kleines Dorf in der Ostukraine. Theo wehrt sich im Geheimen dagegen. Denn er bittet Frieda, in die Ukraine zu fahren, Ludmila, von der sich eine Adresse bei ihm erhalten hat, ausfindig zu machen, ihr ein Geldgeschenk zu überreichen, vor allem aber: sie zu bitten zurückzukehren. Zu ihm, Theo. Um ihn auf seiner allerletzten Zeit auf Erden liebevoll zu begleiten.
Frieda erfüllt ihrem Vater diesen Wunsch und fährt los, mit ihrem besten Freund Edgar, einem pensionierten Musiklehrer, dessen einst angestrebte Sängerkarriere sich auf Grund mangelnden Selbstbewusstseins zerschlagen hatte, weshalb er sich vom Unterrichten reichlich untalentierter Kinder ernährte. Edgar hat einen eigenen Grund, erstmals überhaupt in die Ukraine zu fahren. Er, der Hochgebildete, der umfassend Belesene und am Sinn jeglichen Reisens Zweifelnde, hat mütterlicherseits jüdische Vorfahren, die aus der östlichen Ukraine stammen. So reisen sie nach Lemberg, nach Iwano-Frankiwsk, nach Czernowitz, schließlich in den Weiler, in dem Ludmila lebt und seit kurzem glücklich verheiratet ist. Das Geld überreichen sie ihr, doch Frieda unterschlägt die eigentliche Bitte ihres Vaters. Wieso Ludmila aus ihrem Glück reißen? Vor der Reise hat Theo der Tochter völlig überraschend sein Kriegstagebuch überreicht, von dem sie, die Historikerin und unerbittlich Nachhakende, bis dato nichts wusste – und diese Aufzeichnungen bilden das historisch verstörende Passepartout zur Gegenwart in der Ukraine.
Das letzte der fünf Kapitel, eine Abfolge der Jahreszeiten von Winter zu Winter, schildert diese finale Enttäuschung, das Ausbleiben Ludmilas im Leben Theos, sein langsames Verlöschen und Sterben. An seinem Grab finden Frieda und ihre entfremdete Tochter Melissa wieder zueinander.

Das ist bei weitem nicht so exzeptionell traurig wie frühere Bücher dieser Autorin, die sich so häufig um Außenseiter und Ausschließung gedreht haben. Vielmehr durchzieht eine feinsinnige Melancholie diesen Roman, der das Kleine, die Familienzelle, verwebt mit Großem, dem Krieg, der das wohlbestallte Heute konterkariert durch die bitterarme Kindheit und Jugend Theos, der Westeuropa zusammenbringt mit genealogischen Wurzeln in den Karpaten, in Rumänien und Osteuropa, den aktuellen Frieden mit den Zerstörungs- und Auslöschungswellen der 1940er Jahre.
Dieses Buch ist kein plumper Gerichtshaltungsroman über die ältere Generation, sondern eine sensible Umkreisung und psychologisch überzeugende Ausleuchtung der Konflikte zwischen jenen, die mitgemacht hatten wie der sich ewig anpassende Theo, und jenen, die Licht ins bewusst aufrechterhaltene Dunkel bringen wollen wie die lange Zeit unfriedliche Tochter Frieda. Mitgutsch gibt beiden, Theo und Frieda, immer wieder ausführlich Raum, um aus ihrer jeweiligen Perspektive etwas zu schildern, was das Gegenüber in der selben Situation konträr empfunden und gedacht hat.
Ein wirklich bemerkenswertes Buch ist Die Annäherung, vielleicht der beste, weil eindringlichste Roman Anna Mitgutschs.

Anna Mitgutsch Die Annäherung
Roman.
München: Luchterhand, 2016.
448 S.; geb.
ISBN 978-3-630-87470-8.

Rezension vom 18.05.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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