#Lyrik

Die Anleitungen der Vorfahren

Ann Cotten

// Rezension von Helmut Sturm

Was für ein Buch. Das Inhaltsverzeichnis hat 53 Einträge in den Sprachen Deutsch, Englisch, Japanisch, Hawaianisch. Für uns Leser:innen gibt es zum Glück und vorsichtigen Verstehen ein Glossar, das diverse sinojapanische, koreanische, russische Schriftzeichen transkribiert und erklärt. Prosa und Poesie, Mischgedichte und Essay, Momentaufnahmen und Didaktisches.

Es ist Universalpoesie, ohne kindliches Zauberwesen und, wie Arno Schmidt sagen würde, „Ausdruck des verwegensten Realismus in Lebensführung und Kunst“. Mehrsprachigkeit und Wortspiele, die „kleinen Quellen“, sind ebenso präsent wie ein zugrundeliegendes Engagement: „Seit langem besteht seihrne Intentionalität nur mehr darin, Schlimmeres zu verhindern.“

„seihrne“ – das ist „polnisches Gendering“: „Alle für alle Geschlechter benötigten Buchstaben in gefälliger Reihenfolge ans Wortende.“ Beim Lesen eine seltsame Erfahrung, wenn frau/man bemerkt, dass das Geschlecht gewechselt wird, ohne jede Schwierigkeit. Die Absicht dieser Art des Genderns ist, heißt es in einem der Paratexte des eher schmalen Bandes, zu zeigen, „dass es bei allen Arten von Gendering nicht um Korrektur, sondern um das Aufzeigen von Missständen geht. Gelöst werden müssen die Probleme außerhalb der Sprache.“

Es könnte jetzt der Eindruck entstehen, da lägen 170 sperrige, hermetische Seiten vor. Doch Ann Cotten notiert schon auf Seite 7 im Gedicht „Ökoschotter“: „Ein Schritt nach dem anderen ist ungefähr das Äußerste, / was man einem anderen an Gedanken zumuten soll.“ So lesen wir das Buch durchaus mit großem Vergnügen, auch wenn manchmal vielleicht offenbleibt, in welche Richtung nun der Schritt führen wird. Insgesamt entsteht ein Bild über den Aufenthalt einer Forscherin in Hawaii, das die Eigenart der Insel, ihre Geschichte ebenso enthält wie die aus Wien und Berlin mitgebrachten Erfahrungen. Da wird gewandert, Rad gefahren, Unkraut gejätet, begehrt und gesucht. Und vor allem auch gelesen. Die Stellen über das Lesen (und Lernen) wären vortreffliche Unterrichtslektüre, voller Einsicht und Lebenswissen.

Doch da sind noch andere Themen. Eine kleine Liste: Der Stellenwert der Technik, Gendergerechtigkeit, Kolonialismus, Puritanismus, Ästhetik, Kopieren und Klauen, Medientheorie, soziale Gerechtigkeit, Ethik, Logik, Selbstidentität – die „human race“. „Hör auf, es reicht.“ Da sind Wiedersprüche und Verzweiflung. „Das ewig Menschliche ist das ewig Unsympathische. / Willst du kein Mensch mehr sein, krepier.“ Mensch sein wird als mühsamer Prozess verstanden, der schwer auszuhalten ist, „wenn man noch nicht verrückt ist.“

Ein lyrisches Ich fasst am Schluss des Buches zusammen: „Ich war im Land der Göttennni / sie gingen an mir vorbei / und ließen mich passieren / zeigten mir, wie sie sind“. Diese Einsichten, voller Wut und Schmerz („Wirklich nützlich wäre Ausrottung der gesamten Menschheit. Oder der Weißen.“) sind starke Lektüre. „Wir ohne Wurzeln“ sollen sie zur Hand nehmen!

Ann Cotten Die Anleitung der Vorfahren
Gedichtband.
Mit Abbildungen von Ann Cotten.
Berlin: edition suhrkamp, 2023.
170 S.; brosch.
ISBN 978-3-518-02981-7.

Rezension vom 16.03.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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