Der erste Band endet im Jahr 1936 mit der 18-jährigen Johanna. Sie ist als lediges Kind einer Bauernmagd bei Pflegeltern aufgewachsen und hat bereits deutlich zu spüren bekommen, welcher Platz ihr im Dorf zusteht. Eine Ausbildung wollte sie machen, stattdessen arbeitet sie – wie ihre Mutter – nach der Grundschule ohne Lohn auf einem Bauernhof. „Das wär‘ ja noch schöner, wenn eine wie du was wollen dürfte!“, ist der Satz, der ihr junges Leben prägt, und doch bewahrt sie sich ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft, auch als sie in ihrer prekären Lage ein Kind erwartet und damit noch einmal ungewollt in die Fußstapfen ihrer Mutter tritt.
In Renate Welsh‘ neuem Roman begegnen wir Johanna wieder, diesmal als alter Frau. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit hat sie ihr Leben vorbildlich gemeistert und kann auf vieles stolz sein. Peter, den Vater ihres ersten Kindes, hat sie geheiratet und mit ihm sieben weitere Kinder bekommen. Sie ist das Zentrum ihrer großen Familie und eine angesehene Person im Dorf, die oft um Rat gefragt wird. Schließlich hat sie immer allen geholfen, auch in Zeiten, in denen sie selbst nichts hatte, in denen sie, Peter und ihre vielen Kinder nur das „rote Gesindel“ am Ende des Dorfes waren. „Teilen“ hieß stets Johannas Zauberwort, das Schritt für Schritt zu einem gelungenen Leben führte und das auch zur sozialen Gesinnung ihres Mannes passte. Die Liebe zu ihrem Ehemann hat trotz des anstrengenden Lebens die Zeit überdauert und ist auch lange nach seinem Tod noch lebendig. Vor allem wenn Johanna ihren Enkel Jakob anschaut, der seinem Großvater so ähnlich sieht, überfällt sie die Trauer. „Ein schönes Paar wart ihr“, meint Johannas Enkelin Sophie beim Betrachten eines alten Fotos, „mir hätte der Opa auch gefallen“. Mit der Frage „Warst du sehr verliebt?“ kann die alte Johanna allerdings nichts anfangen: „Verliebtsein mit Kribbeln in den Zehen, mit Herzklopfen und einem Knoten im Hals war ja sehr schön, aber dafür brauchte man Zeit, auch war es sicher kein Nachteil, wenn man sich keine Gedanken um unbezahlte Rechnungen machen musste, wenn kein Kind schrie und keine Milch am Herd überging. Jung, dumm und verliebt, das passte zusammen.“ (S. 90)
Trotz dieses harten Urteils blitzen auch romantische Momente aus Johannas Erzählungen hervor, etwa eine Wanderung mit Peter durch den Wald zu einem Cousin, der als Köhler und Imker in einer Hütte lebte und das junge Paar mit Schnaps bewirtete. Oder das Glücksgefühl, als sie mit Peter Fahrradfahren lernte. Auch eine denkwürdige Silvesternacht mit den Nachbarn – „du weißt schon, mit der, die das Buch über mich geschrieben hat, und ihrem Mann“ (S. 146) – taucht mehrmals aus dem Bewussteinsstrom auf.
Die Autorin Renate Welsh verdankt Johannas Geschichte, so wie auch viele andere, ihrem Talent als Zuhörerin. Es ist das Leben ihrer ehemaligen Nachbarin im kleinen niederösterreichischen Ort Hilzmannsdorf:
„Als ich wieder einmal über sie nachdachte, schrieb ich den Satz: ‚Sie hat bewiesen, dass ein Mensch mehr sein kann als die Summe dessen, was ihm widerfahren ist.‘ Das ist zu kurz gegriffen, wie wahrscheinlich jeder Versuch, einen Menschen zu definieren. Sie war klug, großzügig, lebendig, stur, unbequem, neugierig, offen. Man konnte lachen mit ihr. Nie werde ich vergessen, wie wir nach einem ungeplanten Silvesterfest bei ihr auf dem Betondeckel ihrer Senkgrube Donauwalzer tanzten. Wir waren stolz darauf, dass sie uns mochte.
Ein Kind, das im Herzen seiner Eltern keinen Platz findet, findet auch keinen Platz in der Welt, schrieb Anna Freud. Ich glaube daran, dass es immer wieder Menschen gibt, die nebenbei und ohne zu suchen einen Platz für sich finden, indem sie Platz für andere schaffen. Sie hätte natürlich nur gelacht über eine solche Erklärung und gesagt, dass sie immer nur getan hat, was gerade notwendig war, ‚Du kannst schließlich Leute nicht wegschicken, wenn sie vor deiner Tür stehen‘. An ihrer Selbstverständlichkeit konnten Herausforderungen auflaufen, egal wie unzumutbar sie sich gebärdeten.“
(aus dem Vorwort, S. 11)
Die Idee zum aktuellen zweiten Band kam, so die Autorin, von Johanna selbst, die mittlerweile gestorben ist, und die anfangs skeptisch war, ob eine Schriftstellerin, die als Wiener Arzttochter aus einer ganz anderen Welt kam, sich in die Denkmuster und Gefühle einer von Armut und sozialer Ausgrenzung geprägten Bäuerin hineinversetzen könne. Doch Renate Welsh, die das Zuhören laut eigener Erzählung als Kind gelernt hat, als sie für ihren Vater Medikamente zu seinen Patient/inn/en brachte, beherrscht nicht nur das „stellvertretende Schreiben“ auf beeindruckende Weise, sie animiert mit diesem Talent auch Menschen zum eigenen Schreiben. In zahlreichen Schreibwerkstätten mit obdachlosen Menschen, Kindern, Alkoholkranken oder Bergbäuerinnen geht es um nichts Geringeres als um das Leben selbst; um die Ermächtigung, das eigene Leben durch Erzählen in Besitz zu nehmen: „Ich glaube, dass man das, was einem widerfährt, auch gestalten kann – mithilfe der Sprache“, so Renate Welsh in einem Interview zu ihrem 80. Geburtstag.
Für Die alte Johanna habe sie versucht zu formen, was in deren Erzählungen gegenwärtig wurde, was sie beobachtet habe, was sie zu verstehen glaubte. Eine chronologische Ordnung habe sie nicht gesucht, Erinnerung gehe ihre eigenen Wege, so die Autorin. Entsprechend dem Alter der Porträtierten sind diese Erinnerungen verschlungen, sprunghaft, bruchstückhaft, Personen und Ereignisse ziehen vorbei und lassen sich nicht immer festhalten. Als die jüngste Enkelin ihre Großmutter Johanna als Zeitzeugin für die Schule gewinnen will, lehnt diese entsetzt ab, ihr Gedächtnis lasse sie von Tag zu Tag mehr im Stich. Außerdem: „Zeitzeugin, dachte sie. Sie war nie eine Zeitzeugin gewesen. Auch dafür brauchte man Zeit, und woher hätte sie die nehmen sollen? Das sollte ihr bitteschön einer erklären.“ (S. 29)
Der Czernin Verlag hat zum Nachlesen auch den ersten Johanna-Band neu aufgelegt, und da viele Erinnerungen der alten Johanna sich darauf beziehen, macht es durchaus Sinn, gleich beide Bücher zu lesen. Johanna ist 1979 im Verlag „Jugend und Volk“ dezidiert als Jugendbuch erschienen, es ist jedoch ebenso ein Buch für alle Altersgruppen wie der Nachfolgeband Die alte Johanna. Sozialkritisches Interesse und ein Herz für kämpferische Frauenfiguren sind schon eher Voraussetzung für die Lektüre von Renate Welsh‘ realistischen, psychologisch nuancierten Romanen, die scheinbar nebenbei auch historische Zusammenhänge und soziale Ungerechtigkeiten aufzeigen. Die eigene Kindheit, die vom frühen Verlust der Mutter und den Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg geprägt war, ist dabei als Erfahrungshorizont stets präsent und hat den speziellen Blickwinkel der Autorin nachhaltig geprägt. Nachlesen kann man Renate Welsh‘ eigene Kindheitserinnerungen im Erzählband Kieselsteine, der 2019 ebenfalls im Czernin Verlag erschienen ist.