#Roman

Die algerische Verblendung

Ronald Pohl

// Rezension von Florian Neuner

Literatur aus und über Algerien wird in der Regel vor allem aus zeitgeschichtlichem oder politischem Interesse gelesen. Kolonialismus und Unabhängigkeitskrieg (1954-62), weiters Islamisierung und Bürgerkrieg in den neunziger Jahren heißen die Stichworte dazu. Algerische Autoren wie Assia Djebar und Mohamed Magani sind gern gesehene Gäste eines westeuropäischen Literaturbetriebs, der sich gerne engagiert gibt, wenn es nichts kostet und die Probleme weit genug entfernt liegen.

Ronald Pohls Roman Die algerische Verblendung, der auch intertextuelle Fühlung mit dem „Fremden“ des Algerien-Franzosen Albert Camus aufnimmt, läßt sich nun einerseits situieren in dieser postkolonialen Algerien-Literatur, fällt bei näherer Betrachtung jedoch wieder vollkommen aus ihr heraus. Sicher, Zeit (Anfang der sechziger Jahre) und Schauplätze (hauptsächlich die Peripherie der Hauptstadt Algier) sind eindeutig durch Namen, Daten und Fakten markiert. Es ist dennoch zweifelhaft, ob man sehr viel über Algerien erfährt in diesem Roman, ja ob es darum überhaupt geht.

Denn daß Ronald Pohl es sich plötzlich zur Aufgabe gemacht haben könnte, einen historischen Roman zu schreiben, muß doch alle diejenigen stutzig machen, die seine bisherige literarische Arbeit verfolgt haben – auch wenn in der Zeitschrift „perspektive“ vor drei Jahren schon einmal der „Beginn eines Romans“ abgedruckt war, eines anderen, ein österreichisches Horrorszenario ausmalenden freilich. Pohl ist, was der Klappentext des Algerien-Romans verschweigt, vor seinem ersten Droschl-Band „sudelküche seelenruh“ (2004) mit Texten wie dem in Christian Steinbachers „Blattwerk“ erschienenen Gedichtzyklus „von stühlen drangs“ hervorgetreten, in dem er 2000 Jahre Materialismus anhand spezifischer Wortfelder und Rhetorik analysiert und seziert. Und auch „Die algerische Verblendung“ hat mehr mit solcher Arbeit mit dem sprachlichen Material zu tun als mit gängiger postkolonialer Literatur. Pohl baut auch nicht wie etwa Daniel Goetsch in seinem 2006 erschienenem Roman „Ben Kader“ vermittels einer in der Gegenwart angesiedelten Rahmenhandlung (der Erzähler begibt sich auf die Spuren seines Vaters, eines Orientalisten, der sich zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges in Algerien aufhält) eine Brücke, die eine Reflexion der Ereignisse aus heutiger Sicht ermöglicht. Pohls Bilderflut, die der Verlag treffend als Schmutzflut ankündigt, erzeugt die Suggestion einer Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit, so etwas wie eine abwägende Distanz, ein nachträgliches Ab- und Einschätzen der Ereignisse findet nicht statt. Wir befinden uns lesend mittendrin in den Scheußlichkeiten und Perversionen dieses phantasmagorischen Algerien – und werden doch ständig wieder herausgerissen. Denn der Text, den man als eine einzige Beschreibungsorgie bezeichnen könnte, als ein metonymisches Feuerwerk, ist so grell überzeichnet, daß nie die reportagehafte Suggestion des Dabeiseins sich einstellen kann. Es geht eben höchst artifiziell zu.

Der Roman besteht eigentlich zur Gänze aus „streunenden Abschweifungen“. So bezeichnet der für eine dubiose Immobilienverwaltung skrupellos tätige und sich ständig in Algier und den nahen Bergen bewegende Ich-Erzähler seine Wege, und man mag darin eine Anspielung auf die Dérive-Konzepte der Situationisten sehen. Auch der Text schweift unentwegt ab, ein Schreckensbild gibt das andere, ein Aberwitz zeugt den nächsten, oft erst nach längeren Umwegen kehrt der Erzähler wieder zurück zu einer Begebenheit, mit deren Schilderung er bereits begonnen hatte. Pohls Algerien, auf das die Sonne unbarmherzig ihre „Brennstäbe“ herabschickt, ist ein vollkommen korruptes und heruntergekommenes Land, in dem jeder jedem mit maximaler Rücksichtslosigkeit begegnet. Alles ist zum Scheitern verurteilt: Die Araber sind lethargische Nichtsnutze, die Franzosen resigniert bis zynisch, lächerlich in ihrem Anspruch, die Zivilisation der Grande Nation in das Wüstenland zu exportieren. Es gibt keinen Ausweg, schon gar nicht die „Lehm- und Dreckgeburt eines neuen Algerien“ nach der Unabhängigkeit. Letztlich erscheinen alle Figuren reduziert auf ihre abstoßende Körperlichkeit, gipfelnd in den ausführlichen Beschreibungen des Onkels des Erzählers, eines Alkoholikers, der zum Leidwesen seiner Umgebung seinen Stuhldrang nicht kontrollieren kann: „Von allen verwahrlosten Dingen des Maghreb war mein Onkel Yussuf das gröbste – oder sollte ich sagen, er war, bloß weil er schrie und zankte ein Mensch?“ Dem „bis auf Haut und Knochen heruntergekackten Onkel“ begegnet der Erzähler so mitleidlos wie seiner qualvoll an Krebs sterbenden Mutter und auch sonst allen Menschen, die seinen Weg kreuzen. Genüßlich werden Unpäßlichkeiten ausgebreitet: „Zuhause empfing uns neuerlich der bestialische Gestank der Notdurft – Yussuf, den der Drang zuweilen im flachen, morgendlichen Schlummer ankam, hatte seine Exkremente über die ganze Bettstatt verteilt, der nasse Kot bildete feste Landmassen, zeichnete Höhenlinien, fingierte Bergkämme von inneralpiner Erhabenheit. Nur der Kartograph selbst schien wie vom Erdboden verschluckt.“

Bilder körperlicher Unzulänglichkeit verwendet Pohl auch bei der Beschreibung des Landes, wenn etwa vom „Schmerbauch“ eines Eisenbahnwaggons die Rede ist oder das Schlingern eines Zuges „an den Schüttelhusten eines, der nach Erbrechen der Nahrung im Begriffe steht, sich auch noch großer Teile seines Magensacks zu entledigen“, erinnert. Die Beschreibungs- und Übersteigerungslust gewinnt im Verlauf des Buches immer mehr an Eigendynamik und Komik. Man fragt sich dann, wie es dem Autor wohl gelingen werde, nach dem nächsten absurden, schiefen Bild noch ein weiteres draufzusetzen. Manche Leser werden das enervierend finden, andere werden sich köstlich amüsieren und tun das dann in einer literarischen Traditionslinie, die Bachtin in seinem Rabelais-Buch als „groteske Körperkonzeption“ beschrieben hat. „Aus dem Brennen der Krematorien bezog das junge Algerien einen Großteil seiner – im übrigen unerwünschten – Fernwärme“, lesen wir, dann aber auch wieder so makaber Groteskes, daß einem das Lachen vergällt wird – wenn etwa von einem Hippolyte berichtet wird, er habe „einfältige Buben mit nougatbraunen Segelohren“ dazu gebracht, freiliegende Starkstromkabel zu berühren: „Die verschmorten Kinder, deren entgleiste Gesichtszüge festgefroren schienen, würdigte er keines weiteren Blickes.“

Warum aber ausgerechnet Algerien? Pohls an Camus‘ Meursault angelehnter Erzähler, gegen dessen Rücksichtslosigkeit jene doch auch verstörend mitleidlose Figur fast harmlos wirkt, ist ein Mischling, auch wenn er an einer Stelle von sich behauptet, Lothringer zu sein. Er verachtet Araber und Franzosen gleichermaßen, sein Selbsthaß läßt keinen Ausweg. Der konsequente Negativismus entfaltet seine volle Provokationskraft dort, wo Parteilichkeit normalerweise Pflicht ist – im postkolonialen Diskurs, in der Aufarbeitung des Algerienkriegs oder in der Unterstützung zeitgenössischer algerischer Intellektueller, die von den Islamisten verfolgt werden. Ronald Pohls Flut aber reißt alles mit sich fort.

Ronald Pohl Die algerische Verblendung
Roman.
Graz, Wien: Droschl, 2007.
237 S.; geb.
ISBN 978-3-85420-715-3.

Rezension vom 27.06.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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