#Roman

DesertLotusNest.

Isabella Breier

// Rezension von Barbara Rieger

Anmerkungen zur Poetik des Phönix.

Die „Odyssee“ (Homer) und „Ulysses“ (Joyce) sind nichts dagegen. Mit Isabella Breiers DesertLotusNest kann es höchstens die „Philosophie der Odyssee“ aufnehmen, das „bahnbrechende, dreibändige kulturphilosophische Hauptwerk“ des Philosophen Antoine Bachsirad, dessen Vermächtnis die Protagonisten des Romans beschäftigt und miteinander verbindet.

Wie dem Anhang des Buches sowie den 2021(!) von Isabella Breier herausgegebenen Anmerkungen zur „Poetik des Phönix“. Überlegungen zu Antoine Bachsirad zu entnehmen ist, wurde dieser 1879 in Spanien geboren und starb 1979 „als Hundertjähriger in der selbst gewählten Einsamkeit seines portugiesischen Ferienhäuschens irgendwo am südwestlichen Zipfel der Alten Welt.“ (S. 526)
In den beiden Jahren vor seinem Tod schrieb er „an seinem letzten, erst postum (im Rahmen des Nachlasses) editierten u. publizierten Manuskript: Poétique du Phénix (auf Dt. 2018: Poetik des Phönix).“ (S. 526), welches für den Untertitel des Romans verantwortlich ist.
Nicht minder bedeutend für den Roman ist das „rätselhafte, von zahlreichen Topoi der antiken ‚Odyssee‘ wimmelnde, insbesondere mit der Lotophagen-Szenerie spielende, neunundvierzigseitige Langgedicht DesertLotusNest.“, welches 1947 in einem spanischen Literaturmagazin erschien. (S. 522) Denn DesertLotusNest ist auch der Name einer österreichischen Arbeitslosenkursmaßnahme, die ein zentrales Element des Buches darstellt.
In fünf Kapiteln auf rund 500 Seiten irren die Haupt- und Nebenfiguren durch das Werk des Philosophen, durch ihr von prekären Arbeitsverhältnissen und belastenden Familienverhältnissen bestimmtes Leben, durch eine Welt, in der „niemandem seine Gestalt bleibt“ (Ein Ovid-Zitat und Schlüsselsatz, der an mehreren Stellen zitiert wird, z.B. S. 366).
Erzählt wird anachronistisch, zum Teil adressiert an eine im Verborgenen bleibende Erzählinstanz, zum Teil erzählen einander die Figuren ihre Erlebnisse oder schreiben sie auf. Sie schreiben wissenschaftliche Abhandlungen, Tagebücher, Reisereportagen, Geschichten, Gedichte und streichen sie mitunter wieder. Nicht immer ist klar, was Traum, Imagination und was Wirklichkeit ist, nicht immer fügt sich alles zusammen, denn was für die Poetik des Phönix gilt, gilt zum Teil auch für dieses Buch: „Sogar in seinen leichter ‚zugänglichen‘ Passagen trotz die ‚Poetik des Phönix‘ jeder stringenten Logik.“ (S. 423)
So vielfältig die Textsorten, so vielfältig ist die Sprache, darunter auch lyrische Prosa, wie im Klappentext zu lesen ist. Oft nimmt sie Fahrt auf, verfügt über einen rasanten Rhythmus, der zum Weiterlesen zwingt. Immer wieder ist sie betörend und opulent und immer wieder bricht sie mit sich selbst. Es wird mit der Erzählperspektive gespielt, Passagen werden unterbrochen, relativiert, Textstellen durchgestrichen und Monologe in Spalten abgedruckt.
Jedes der fünf Kapitel beginnt mit einem Beitrag aus dem 2021 herausgegebenen Werk von Isabella Breier, der jeweils von einer der Hauptfiguren verfasst wurde: Esther Weninger-Cordialis, Bachsirad-Expertin und alleinerziehende Mutter; Zahra Klaric, Bachsirad-Expertin und Journalistin und Leonore Berger, (ehemalige) Deutschtrainerin, die mit 50+ arbeitslos wird und fiktive Reiseberichte schreibt.

I
Im ersten Kapitel stammt der einleitende Ausschnitt von Esther, die sich in der andalusischen Wüste befindet: „ich stehe auf meinem ebenerdigen Balkon, glotze auf Kakteen, Oleander und Olivenbäume, und dahinter zieht sich, zwischen den Gebirgsketten Los Filabre und Alhamilla, der Desierto de Tabernas.“ (S. 9 und 37) Sie telefoniert. Was sie erzählt, wird von einer weiteren Erzählinstanz protokolliert. „Aber ich schweige, schweige und protokolliere.“ (S. 42).
Mitten in der Wüste trifft Esther auf Demodokos Papadopoulos, einen Altgriechischlehrer aus Wien, welcher sicherlich nicht zufällig den gleichen Namen wie der Sänger aus Homers Odyssee trägt. Dieser wartet auf einer Picknickdecke auf seinen Kollegen Chrístos. Gemeinsam mit ihm ist er aus dem DesertLotusNest getürmt. In dieser „Wohlfühloase“ können österreichische Arbeitslose es sich den ganzen Tag lang gut gehen lassen. Demodokos ist der einzige, dem dies seltsam vorkommt, sein Kollege ist längst wieder dorthin zurückgegangen. Wenn Esther nicht von ihrer Freundin Leonore, die im Weiterbildungsbereich beschäftigt ist/war, bereits vom DesertLotusNest gehört hätte, würde sie es nicht glauben.
Auch Zahra telefoniert, vom südwestlichen Zipfel des Kontinents, mit derselben Erzählinstanz, auch Zahra kennt Leonore. Zahra, die an einem Nachlassprojekt zu Antoine Bachsirad mitarbeiten sollte und ihre eigene Odyssee hinter sich (oder vor sich) hat, erinnert sich: „Denn statt des groß angekündigten, in höchsten Tönen beschwärmten Bachsirad-Projekts hatte Zahra von Anfang an ein über Übliches weit hinausreichendes Chaos vorgefunden. Ein ständig sich wiederholendes, ständig aufs Neue nicht eingehaltenes Versprechen. Aber zumindest in der Landschaft war damals noch alles da und so gewesen, was und wie’s im Buche stand: inklusive Bananenstauden, Mandel- und Walnussbäumen, Mimosen, Pfingstrosen und Rhododendren. So vieles, glaubt Zahra, würd sie erinnern, an die letzten Wochen denken oder vielmehr, vor und zwischen allen Dingen, den sichtbaren wie unsichtbaren, den Satz: all diese verspielten, nein, verlorenen Wochen, das könne, dürfe nicht wahr sein. Wie sie den Kopf schüttelt, nur für sich, das würd sie erinnern.“ (S. 51f)
Leonore hingegen liegt in Wien in ihrem Bett und schreibt von dort aus Reisereportagen, unter anderem über Wüsten. Auch sie telefoniert mit der Erzählinstanz und „gibt mir gegenüber zu, neuerdings mehr zu streichen als zu schreiben“. Teile dieser Reportagen mitsamt den Streichungen sind ebenso abgedruckt wie Leonores Skizzen, die „Idioten“, die die Situation bei Leonores (ehemaligem) Arbeitgeber Benu-Up beschreiben, der für das DesertLotusNest verantwortlich ist.
Da die Erzählinstanz sich weigert, sich von Leonore vorlesen zu lassen, wendet diese sich an Max, einen Sozialwissenschaftler, der mit den drei Hauptfiguren bekannt ist.

II
Im zweiten Kapitel „protokolliert“ (S. 94) die Erzählinstanz, wie Zahra während eines Aufenthalts in Slowenien vor zwei Monaten die Zusage zur Mitarbeit an Bachsirads Nachlass bekommen hatte. Wir erfahren mehr über das Werk und Leben des Philosophen, wir erfahren, dass Zahra mit Max zusammen ist, der sich über die Zusage keineswegs freut, da Zahra seiner Meinung nach viel zu wenig Zeit zu Hause verbringt. Zahra erkennt gleich darauf einen Mann aus ihrem Traum wieder, den sie Püppchengesicht nennt und den sie sofort zu einem surrealen Blogeintrag verarbeitet. Auf einer weiteren Zugfahrt fühlt Zahra sich, als würd sie „wegen Schönheit platzen“ (131), denkt über Bachsirad und Max nach, zu dem sie nicht zurückkehrt.
Die Erzählinstanz „erinnert“ (S. 142) Leonore vor fünf Monaten, die wiederum Zahra am Telefon aus ihren Skizzen vorliest (betitelt mit „Idioten“), die längere Szenen im Erwachsenenbildungsinstitut Benu-Up wiedergeben.
Außerdem wird Esther vor sechs Monaten „fixiert“ (167): Sie befindet sich in der Sprechstunde eines HNO-Arztes, den sie wegen eines nicht enden wollenden Brummtons in ihrem Ohr konsultiert, sie befindet sich in einem Traum, aus dem sie durch die Stimme ihrer Tochter Sophie und durch einen Anruf von Max geweckt wird. Ihm erzählt sie bei einem Treffen einen weiteren langen Traum, der nur durch die Ankunft Leonores unterbrochen wird. Wir erfahren, dass die drei gemeinsam einen Forschungsantrag zu einer Glücksstudie planen. Wir erfahren von Esthers Überforderung als alleinerziehende Mutter (vor allem durch ihre pubertierende Tochter Sophie) und dass sie sich als akademische Ghostwriterin Geld dazu verdient, wir erleben ihren Gewissenskonflikt, als sie sich schließlich dazu entscheidet, das Ghostwriting für eine Dissertation zu Bachsirad anzunehmen, zu dem sie selbst – genauso wie Zahra – promoviert hat.

III
Das dritte Kapitel beginnt mit einem Ausschnitt von Leonore in Breiers Anmerkungen zur „Poetik des Phönix“, und ihrem Text „Benu-Up- das Meeting: Irgendwas stinkt zum Himmel!“ In diesem wird von der Vorstellung des DesertLotusNest – Projekts am Erwachsenenbildungsinstitut erzählt. Wir erfahren, dass die KundInnen, „sich im Vorfeld bereit erklären würden, ihren Aufenthalt vom Evaluierungsunternehmen aufzeichnen und eventuell ausschnittsweise zeigen zu lassen.“ (238f) An dieser Stelle tritt auch ein gewisser Herr Maniok auf und proklamiert: „Ich habe die Idee gehabt! Ich allein! Mir ist das DesertLotusNest zu verdanken. Mir und meiner Liebe zu Antoine Bachsirad. Und freilich diesem wunderbarsten aller wunderbaren Gedichte. Bachsirads poetisch-utopisches „DesertLotusNest“, das keine Sau zu kennen scheint!“ (S. 251). Leonores heftige Kritik an diesem Projekt führt im Weiteren zu ihrer Kündigung.
Die Glücksstudie von Max, Esther und Leonore wird abgelehnt, Max bekommt aber die Zusage für ein Armut- und Reichtumsstudienprojekt. Während er begeistert darüber erzählt, platzt Leonore mit der Nachricht von ihrer Kündigung heraus, es wird die ethische Moral von Esthers Ghostwriting diskutiert und getrunken. Wir tauchen in Esthers Tagebuch und ihre Lebenswelt ein, Esther, deren Überforderung durch die Arbeit an der Dissertation steigt und sich zum Brummton in ihrem Ohr steigert. Sie beginnt von der Wüste – vom Desierto de Tabernas – zu träumen.
Wir sind bei Zahra, die direkt nach Lissabon geflogen ist, woraufhin Max sich von ihr trennt. Beim Welcome Dinner trifft sie auf das „Püppchengesicht“, das sich als Albert Casini vorstellt. Er schreibe gerade seine Dissertation zu „Bachsirads Anmerkungen und Interpretation der Odyssee“ und habe den gleichen Ansprechpartner wie sie, einen gewissen Eugenio Tupez-Baril. Zahra verliebt sich sofort in Albert, spaziert mit ihm durch Lissabon und verfasst (unter anderem) geschwollene Reisenotizen.

IV
Im vierten Kapitel begeben wir uns mit Esther und Demodokos auf den Weg ins DesertLotusNest. Zu Demodokos Unbehagen fühlt Esthers sich an diesem Ort sehr wohl und beginnt einen Vortrag über Grenzen und Entgrenzung zu halten, der nicht zu stoppen ist.
Zahra wiederum träumt von Albert, erinnert sich, dass sie in Lissabon krank wurde, während sie sich längst in einem Auto am Parkplatz befindet, weiterfährt: „Dieser Moment, als Zahra wusste: Dass die (als wundersamerweise entdeckt geheißenen) Schriften und akustischen Aufzeichnungen Bachsirads hier jedenfalls nicht aufzutreiben. Der Moment, als offensichtlich, dass es da kein entsprechendes Gebäude gebe, geschweigedenn eine richtige, betriebsame Forschungseinrichtung-Dependance. Und trotzdem: weitergehen, weiter. Suchen, versuchen, im Rahmen der Möglichkeiten.“ (375f) Zahra macht sich in der Nacht alleine auf den Weg, schwimmt im Meer, und kommt dabei fast um.
Leonore befindet sich ebenfalls am Wasser, auf einem Tretboot mit Max und lamentiert über ihre Arbeitslosigkeit. Dass sie als Autorin von Reiseberichten äußerst erfolgreich ist, auch finanziell, zählt für sie nicht.

V
Im fünften Kapitel denkt Zahra über ihren Tod nach, wir folgen ihr durch mehrere Traumsequenzen: „Dachte, denkt, sie wache auf. Dachte, denkt, die brechenden Wellen zu sehen, gesehen zu haben. Dachte, denkt, die brechenden Wellen zu hören, gehört zu haben. Hätte drauf schwören können, aufgewacht zu sein. Aus irgendeinem Traum im Traum im Traum im Traum.
Irgendwer mit ihrem Blick schaut aufs Meer. Irgendwer mit ihrer Stimme sagt: Schwierig. Schwierig. Diese Geschichte mit der Urteilskraft.“ (S. 458)
Leonore versucht vergeblich Zahra zu erreichen, sie läuft im Wald umher, beschwert sich weiterhin bei Max über ihre Arbeitslosigkeit und bewirbt sich letztlich sogar um einen Platz im DesertLotusNest.
Demodokos versucht vergeblich Esther aus ihrer Höhle im DesertLotusNest heraus zu bekommen, in der sie es sich eingerichtet hat. Zu diesem Zweck zitiert er sogar die Odyssee: „Aber die Lotophagen beleidigten nicht im geringsten unsere Freunde; sie gaben den Fremdlingen Lotos zu kosten. Wer nun die Honigsüße der Lotosfrüchte gekostet, dieser dachte nicht mehr an Kundschaft oder an Heimkehr: sondern sie wollten stets in der Lotophagen Gesellschaft bleiben und Lotos pflücken und ihrer Heimat entsagen.“ (S. 471)
Später trifft Demodokos auf Herrn Manok und Albert und kommt mit ihnen ins Gespräch. Hinzu stößt Eugenio Tupez-Baril, der offensichtlich nicht nur mit dem Nachlass von Bachsirad, sondern auch mit dem Evaluierungsprojekt des DesertLotusNests zu tun hat, wenn auch wie er behauptet nur „peripher“.
Er nennt die Maßnahme „Lotophagen unter hochmodernen Bedingungen.“ (482)
Als das Gespräch auf Esther und ihre Arbeit kommt, wird Albert hellhörig und erklärt sich bereit, Demodokos zu helfen, Esther aus dem DesertLotusNest zu holen. Die Dissertation – natürlich für Albert – ist Esther zwar egal, doch schließlich erreicht sie ein Anruf, dass ihre Tochter Sophie einen Unfall hatte und sie verlässt das DesertLotusNest.

Abschließend ist ein E-Mail aus dem Jahr 2021 an die Haupt- und Nebenfiguren des Romans abgedruckt, in dem sich eine gewisse I.B. für die „(im Übrigen äußergewöhnlich spannenden, ungemein vielfältigen sowie perspektivenreichen) Textbeiträge“ bedankt, welche in den „Anmerkungen zur Poetik des Phönix“ erscheinen werden. Sie sendet herzliche Grüße aus dem DesertLotusNest.
Die – hauptsächlich von Demodokos und Leonore gestellte – Frage nach Sinn und Unsinn der Arbeitsmarktmaßnahme DesertLotusNest bleibt unbeantwortet und steht dabei stellvertretend für den Sinn und Unsinn zahlreicher vergleichbarer Einrichtungen und Maßnahmen, die unsere Gesellschaft hervorbringt.
Auf einer anderen Ebene steht das DesertLotusNest – als Land der Lotophagen – stellvertretend für einen Sehnsuchtsort der Protagonistinnen. Als Intellektuelle, AkademikerInnen und Geistesmenschen protokollieren, analysieren sie ihr Handeln und ihre Situation zwar ständig sehr ausführlich, kommen aber dennoch – oder gerade deswegen – niemals bei sich an. In unterschiedlichem Ausmaß sehnen sie sich – wie wir alle? – danach, Lotus zu essen und zu bleiben.
Ein unglaubliches Buch!

Roman.
Weitra: Bibliothek der Provinz, 2017.
526 S.; brosch.
ISBN 978-3-99028-679-1.

Rezension vom 04.02.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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