Offenbar hat es ihr diese Epoche angetan, denn auch der Der Zauberer vom Cobenzl ist hier angesiedelt. Sein Protagonist gehört ebenfalls zu den Selfmademen und Egomanen des aufkommenden bürgerlichen Zeitalters: Carl Ludwig Freiherr von Reichenbach (1788 bis 1869) war ein Mann der Wissenschaft und der Tat: Wegen Gründung einer Kolonie auf Tahiti des Hochverrats angeklagt und inhaftiert, entwickelte er in Baden neuartige Öfen für die Holzverkohlung, erfand in dem Eisenhüttenwerken des Fürsten Salm-Reifferscheidt ab 1821 im mährischen Blansko den ersten industriellen Farbstoff und legte dort eine bedeutende Meteoritensammlung an. Er eröffnete in Raitz bei Blansko die größte Zuckerfabrik Europas, bevor der 1835 das Schloss Cobenzl in Wien erwarb. „Zauberer vom Cobenzl“ war der Name, den ihm der Wiener Volksmund verpasst hatte.
Wie in Die Tauben von Brünn wird auch hier der Protagonist durch die Brille einer jungen Frau dargestellt – in diesem Fall seiner Tochter, der Icherzählerin Hermine, die nach seinem Tod mit den (auto-)biografischen Aufzeichnungen beginnt, die den Namen „Roman“ tragen, weil sie trotz der historischen Vorbilder fiktiv sind.
Hermine von Reichenbach (1819–1902) erhielt von ihrem Vater eine umfassende naturwissenschaftliche Bildung. Sie interessierte sich für Botanik und arbeitete an dessen Herbar mit, das sich heute im Besitz des Naturhistorischen Museums befindet, ihre Veröffentlichungen zur Anatomie der Pflanzen während ihrer Zeit am Grazer Joanneum erschienen anonym – ein ungewöhnliches und doch typisches Frauenschicksal der Zeit, das es an sich schon verdient, dem Dunkel der Geschichte entrissen zu werden. Was Balàka an Hermine, ihrer Schwester Ottone, einer angehenden Musikerin, und ihrem gemeinsamen umtriebigen Vater interessiert, scheint aber zunächst nicht das Schicksal der Töchter zu sein, sondern das Wissenschaftskonzept des Vaters.
Nachdem Carl Ludwig Freiherr von Reichenbach zahlreiche Erfindungen getätigt hatte, die ihm und seinen Gönnern zu respektablem Wohlstand verholfen hatten, widmete er seinen letzten Lebensabschnitt – ähnlich wie der Physiker, Elektroingeneur und Erfinder Nikola Tesla (1856–1943) – einer fixen Idee, nicht merkend, dass er bereits verlacht wurde, und stur dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ruin entgegenschreitend.
Zu Beginn des Romans, wir schreiben das Jahr 1844, bricht Hermine mit ihrem Vater zu einem nächtlichen Experiment auf. Mit Hilfe von sogenannten „Sensitiven“ will dieser nämlich die Existenz einer „Odlicht“ genannten, dem Magnetismus ähnlichen Ausdämpfung beweisen, die unter anderem aus frischen Gräbern entweicht – eher ein Gruselstück denn ein Schauplatz naturwissenschaftlicher Forschung.
Blinde Fortschrittsgläubigkeit und ungezügelter Obskurantismus sind im Falle des Carl Ludwig Freiherr von Reichenbach kein Widerspruch. Mit diesem Thema leistet „Der Zauberer vom Cobenzl“ einen Beitrag zu einem aktuellen Diskurs: dem Widerstreit von Fanatismus und Skepsis. Er zeigt, dass die Naturwissenschaften im Fahrwasser der Aufklärung oft keine gerade Linie von der These zu Beweis und Umsetzung ziehen, sondern ihre Fortschritte nur mühsam erringen konnten, mit Irrwegen, Sackgassen und Fehlkalkulationen.
„Der Kampf zwischen der Wissenschaft und der anderen Seite köchelt und schwelt und dampft und explodiert“, schreibt Hermine es an einer Stelle. „Auf der anderen Seite stehen Religion, Aberglaube, Spiritismus, Alchimie, Astrologie, Handleserei, Pendeln, Graphologie, Okkultismus, Scheinwissenschaft, Hoffnung, Wunsch und Wahn. Beide Seiten haben Rituale, Ordnungen, Instrumente, Apparate, Bücher und Zaubersprüche.“ Auch in der bürgerlichen Revolution von 1848, die Hermine und ihre Schwester in der Bäckerstraße hautnah miterleben, tauschen Gut und Böse „unentwegt die Plätze“.
Die Emanzipation der Frauen, das zweite Thema des Romans, verläuft ebenfalls nicht ohne Hindernisse. Die längste Zeit zeigt sich Hermine als selbstlose Unterstützerin und Bewunderin ihres Vaters – bis dieser ihr (und ihrer Schwester Ottone) eine nicht standesgemäß empfundene Heirat verwehrt. Der endgültige und abrupte – und für die Leserschaft auch überraschende – Bruch mit dem Vater gelingt den Schwestern erst im Zuge der gewaltsamen Aufstände des Revolutionsjahrs 1848, als die alte Welt sowieso schon aus den Fugen geraten ist.
Die Kunst Balàkas liegt genau darin: Widersprüchliches nebeneinander stehen zu lassen und dabei auf dem Boden der damaligen Tatsachen zu bleiben: Hermine führt zwar am Schluss ein für die damalige Zeit ungewöhnlich selbstbestimmtes Leben, trotzdem gibt sie nach ihrer Heirat ihre wissenschaftliche Forschung auf.
Die Hauptrolle dieses äußerlich schmalen und mit Ereignissen dennoch prall gefüllten Romans spielt aber die Sprache. Balàka zeigt sich in Der Zauberer vom Cobenzl als Wortkünstlerin, die sich an die blumige Sprache der Zeit via Icherzählerin Hermine gekonnt anpasst – und doch lustvoll mit ihr spielt. Statt Kapitelüberschriften setzt sie fiktive, ironisch angehauchte Wörterbucheinträge, die es in sich haben. Zum Beispiel: „Revolution, die. Substantiv, feminin: Für die einen: Versuch der Erfüllung persönlicher Wünsche durch eine gesellschaftliche Bewegung. Für die anderen: Gefahr, dass durch eine gesellschaftliche Bewegung der Erfüllung persönlicher Wünsche ein Ende bereitet wird. Für viele: Kehrtwende vom Regen in die Traufe.“ Oder: „Frau, die. Substantiv, feminin: Mythologische Figur. Historischer Nachweis konnte nicht erbracht werden.“
Hermines Liebe zu den Pflanzen ergießt sich in zahlreichen schwärmerischen Aufzählungen – einer Feier der Natur: „Bäume gehörten für mich seit jeher zu den wundersamsten Dingen, eine Mischung aus Lebewesen und Gebäude. Die vielstöckigen Astpaläste, ich liebte sie alle, die kleinnadeligen, die großblättrigen, die feingliedrigen, die grobschlächtigen, die Eichen und Eiben, die Erlen und Eschen, die Linden und Birken, die Fichten und Föhren, die Rotbuchen und Schwarzpappeln, die Silberlinden und Goldahorne.“
Auch ihr Vater Carl ist ein Mann der Wörter: „Kreosot, Pitakall, Picamar, Eupion, Kamacit, Taenit, Plessit und Od waren Vaters Schöpfungen. Doch war er viel mehr als ein gewöhnlicher Wörterschmied, im Grunde war er ein Dichter. Wer seine Abhandlungen las, wurde nicht vom nüchternen Geist der Wissenschaft in regulierte Kanäle gelenkt, sondern begann zu schwärmen, zu genießen, zu fantasieren.“ Auf Hermine, die in Blansko mitgenommen wird in Bärenhöhlen und auf die Suche nach Meteoriten, wirkt „der ganze Mährische Karst“ „wie ein Roman“. „Mähren und Märchen liegen nah beieinander.“
So nebenbei liefert Balàka dann doch noch eine kleine Geschichte naturwissenschaftlichen Fortschritts – getragen von dem Optimismus der Zeit, der bei Hermine allerdings Risse bekommt aufgrund der Aberrationen ihres Vaters. „Das Wunderbare ist, dass wir die Welt gerade erst entdecken und alles Gefundene taufen können wie unser eigenes Kind. Wer hinausfährt auf die Meere und Kontinente, die die zivilisierte Welt noch nicht mit Namen belegt hat, und eine Insel entdeckt, einen Bergkamm oder einen Wildbach, der kann sie benennen, wie er mag – nach seinem Souverän oder seinem Gefühl, Kaisergipfel oder Elendsbucht.“ Auch Hermine wird so ein Wort erfinden: „Thylle, die. Substantiv, feminin: Mein Wort. Meine Erfindung. Die Pflanze bildet es, wenn sie es braucht. Die Pflanze braucht kein Wort.“ Hermines zukünftiger Ehemann Carl Schuh gehörte zu den Pionieren der Daguerrotypie – einer Technik mit einer glänzenden Zukunft – und gründete in der Nähe des Südbahnhofs eine Fabrik für Galvanoplastik.
Am Schluss hat sogar der Protagonist von Die Tauben von Brünn einen kurzen Auftritt: Johann Karl von Sothen kauft nach dem wirtschaftlichen Ruin Carl Ludwig Freiherr von Reichenbachs durch die Gründung einer Eisenhütte in Ternitz von diesem Schloss Cobenzl. Ein Anreiz, diesen zum „Sequel“ mutierten Vorgänger (wieder) zu lesen!