#Sachbuch

Der unsichtbare Zweite

Ute Schneider

// Rezension von Christa Gürtler

Die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag.

„Unser Handwerk ist auf Intimität angewiesen und taugt nicht dazu, den Meinungsbetrieb zu füttern; es ist ganz auf die Auseinandersetzung mit Texten, das Gespräch mit Autoren und Übersetzern gegründet, also auf leise Verständigung, die, sofern sie glückt, erst in den Büchern vernehmlich wird.“ Das schrieb Günther Busch, 1994 Lektor im S. Fischer Verlag, über sein Selbstverständnis. Er betonte dabei die Individualität des Berufs und plädierte für ein traditionelles Verständnis des Lektorats, das in der Verlagspraxis nur noch selten anzutreffen ist, denn seit den 1990er Jahren dominieren in den Verlagen die Produktmanager.

Ute Schneider zeichnet in ihrem Buch, einer überarbeiteten Habilitationsschrift, die vergleichsweise kurze Geschichte eines Berufsfeldes nach, denn erst um 1900 stellten literarische Verlage erstmals Lektoren ein. Ihre Studie ist schon deshalb verdienstvoll und erhellend, weil sie den Blick auf die „unsichtbaren Zweiten“ richtet, und damit eine Forschungslücke schließt. Kundig beschreibt sie die Berufsgeschichte von den zögernden Anfängen über die Institutionalisierung bis 1945, die Ausdifferenzierung nach 1945 bis zu einem neuen Anforderungsprofil am Beginn des 21. Jahrhunderts.

Interessanterweise gibt es trotz aller Veränderungen auch eine Kontinuität in der Ambivalenz des Berufsbildes. Seit Beginn changiert die Funktion des Verlagslektors zwischen der Position eines literarischen Entdeckers und Literaturexperten und eines auf ökonomischen Erfolg abzielenden Produktmanagers. Und trotz Professionalisierung des Berufs gibt es bis heute weder einheitliche Einstiegs- noch Ausbildungskriterien. Ein Lektor sollte vieles zugleich sein, hohe soziale Kompetenz besitzen, ein Gespür für den Markt haben, dazu Redakteursfähigkeiten in Sachen Inhalt und Orthographie, Herstellungswissen, Kreativität, um Klappentexte, Titel und Pressetexte zu schreiben, literarhistorisches Wissen und eine gute Allgemeinbildung, Fremdsprachenkenntnisse.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine Reihe von Verlagen, Zeitschriften und Zeitungen gegründet, die einerseits jenen wirtschaftlichen Veränderungen in Richtung auf Massenproduktion Rechnung trugen, andererseits neue literarische Strömungen durchsetzen wollten. In diesen Kulturverlagen finden sich die ersten Lektoren: „Moritz Heimann ab 1895 bei S. Fischer, Korfiz Holm ab 1896 bei Bruno Cassirer, Reinhard Buchwald ab 1906 bei Anton Kippenberg im Insel Verlag, Efraim Frisch spätestens ab 1911 sowie Alfred Neumann ab 1913 bei Georg Müller, dort auch Franz Blei sowie die beiden Schriftsteller Kurt Pinthus und Franz Werfel ab 1912 bei Ernst Rowohlt und Kurt Wolff.“

Die Praxis umfasste verschiedene Arbeitsbereiche, von der Korrektur über die wissenschaftliche Mitarbeit bis zu Gutachten und Beratungen und reichte vom Angestelltenverhältnis bis zum freien Berater. Sehr häufig waren Lektoren akademisch gebildet und noch öfter waren sie Schriftsteller, die einen Broterwerb suchten. So galten Christian Morgenstern und Albert Ehrenstein als hervorragende Lektoren, die sich jedoch über ihre Misserfolge bei der Durchsetzung von Buchprojekten beklagten. Diese Rolle zwischen Autor und Verleger und die mangelnde Entscheidungsmacht in den Verlagen bleibt bis heute eines der Probleme dieser Berufsgruppe in der Verlagshierarchie. Wenn sich das Bild gegenwärtig auch verändert, denn Cheflektoren und Geschäftsführer übernehmen Programmverantwortung vor allem in Verlagen, in denen Konzerne den alten Typus des Verlegers längst abgelöst haben.

Ab Mitte der 1920er Jahre lässt sich eine zunehmende Profilierung des Lektorenberufs erkennen, die Zahl der Lektoratsstellen in den Verlagen nimmt zu, die Bezahlung ist gemessen an den weitreichenden Fähigkeiten aber nach wie vor bescheiden. Gerade bei Publikumsverlagen wie Ullstein gewinnen Lektoren mehr Einfluss, müssen aber auch verstärkt marktpolitische Beurteilungen treffen. Während des Nationalsozialismus bestimmt die Politik die Lektoratsrolle, erst nach 1945 wird das Lektorat eine feste Größe im Verlag, allerdings mit veränderten Tätigkeitsbereichen wie etwa vermehrte Publikation von Übersetzungen. Zu beobachten ist, dass Lektoren rasch Verlage wechseln und nicht mehr langfristig Autoren und Programme betreuen. Fast alle Lektoren und zunehmend Lektorinnen haben ein Studium hinter sich, einige sind Schriftsteller (u.a. Ilse Aichinger, Reinhard Baumgart, Peter Härtling, Rudolf Hartung, Dieter Wellershoff, Urs Widmer), die ihren Brotberuf oft nicht sehr lange ausüben, andere verabschieden sich in die Wissenschaft oder andere Berufe, die der Literaturbetrieb bietet, einige gründen Verlage wie Arnulf Conradi (Berlin Verlag).

Die zunehmende Buchproduktion, die Entstehung von Taschenbuchreihen und -verlagen und die Schnelllebigkeit führten 1968 zu den sogenannten „Lektorenaufständen“ gegen die zunehmende Marktorientierung. Doch sie konnten die wirtschaftlichen Veränderungen nicht aufhalten und den personellen Abbau der Lektorate nicht verhindern. In den 1980er und 1990er Jahren beklagen viele Lektoren ihre Arbeitsüberlastung, die Autorenbetreuung ist nur mehr mangelhaft möglich. „Walter H. Pehle, Lektor im S. Fischer Verlag, sprach 1981 von ’60 – 70 Titeln – darunter 30 – 40 Originalausgaben‘, die ein Lektor unter enormem Arbeitsdruck betreuen mußte.“

Ute Schneider hat ihre Arbeit chronologisch aufgebaut und kann aufgrund der gleichbleibenden Fragestellungen nach der Rolle, dem Berufsbild und den Anforderungsprofilen die Kontinuitäten und Diskontinuitäten des Lektoratsberufs anschaulich herausarbeiten. Sie hat in ihrer Studie an exemplarischen Fallbeispielen von wichtigen Lektoren historische Veränderungen analysiert und Quellen aus verschiedenen Archiven und Nachlässen herangezogen, die ein lebendiges Bild der Praxis ermöglichen. Die dabei notwendige Beschränkung, die zwar der besonderen Entwicklung in der DDR Rechnung trägt, aber keinen Blick auf Österreich und die Schweiz riskiert, ist wahrscheinlich auch in der schwierigen Quellenlage begründet, enttäuscht aber doch ein wenig.

Der Ausblick am Ende des Buches verweist noch einmal auf die unauflösbaren Ambivalenzen des Berufs. So haben sich in den 1990er Jahren Lektoren wie Uwe Wittstock, Christian Döring und Martin Hielscher in literaturtheoretische Debatten eingemischt und für und gegen erzählerische, unterhaltsame und ästhetisch avancierte Literatur plädiert. Ihre Standpunkte vermittelten sie auch in Anthologien junger AutorInnen, die in der Folge auch den Literaturbetrieb bestimmten, das literarische „Fräuleinwunder“ eroberte den Markt. Faktum ist allerdings, dass sich die Verlagsbranche verändert, angesagt ist dabei das Outsourcing von Verlagsarbeiten, wozu auch das Lektorat zählt, leider auch manchmal der gänzliche Verzicht darauf.

Für Ute Schneider ist die Gründung des „Verbands der freien Lektorinnenen und Lektoren e.V.“ ein entscheidender Schritt zu einer Professionalisierung des Lektoratsberufs. Sie sieht die Zukunft in zwei Positionen, im Produktmanager im Verlag, der vorwiegend ökonomische Werte vertritt, und im freien Lektor, der vorwiegend kulturelle Werte vertritt, während die Autorenbetreuung vermehrt von Verlagsagenturen übernommen wird. Ute Schneider hat eine wichtige „Berufsgeschichte des Lektors“ geschrieben, die auch ein Plädoyer für den Fortbestand dieser Profession ist.

Ute Schneider Der unsichtbare Zweite
Göttingen: Wallstein, 2005.
400 S.; brosch.
ISBN 3-89244-758-6.

Rezension vom 29.09.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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