#Prosa

Der Traumklauber

Josef Oberhollenzer

// Rezension von Silvia Sand

So viele Wochen wie das Jahr enthält das Buch an Träumen, erzählt von einem, der nicht träumt. Aus diesem Unvermögen, nicht träumen zu können, sammelt der Erzähler die Träume der anderen, wird zum Traumklauber und während er wiedererzählt, was andere ihm erzählten, entsteht die Frage, ob die Traumlosigkeit ein Glück oder ein Unglück ist.

Die Träume hat der Traumklauber in seiner Umgebung gesammelt, dazu muss er nicht weit suchen, denn seine Umgebung ist erleichtert, dass es einen gibt, der die Träume übernimmt. Die Schwestern, die Mutter und Großmutter, der Vater, der Kindheitsfreund K., Freunde, Bekannte und Unbekannte vertrauen sich dem an, der an seiner Traumlosigkeit leidet. Manch einer wäre froh, nicht geträumt zu haben, was ihn des Nachts so heimsucht. Die Vehemenz der Schrecknisse, von denen der Traumklauber erfährt, lassen seine Neugierde nicht erlahmen, auch wenn es ihn umtreibt, so wie nach dem Traum seines Kindheitsfreundes: „…speckbrotkauend habe ihm da K. einen traum erzählt, der ihm, dem das schweineschlachten vielleicht ein schrecken ab und zu, auf jeden fall aber immer eine ungeheuerliche faszination gewesen sei, an diesem geißhüttag so sehr in die eingeweide gefahren sei, daß er bereits beim abstieg von der alm immer wieder ins gebüsch oder hinter einen baum habe verschwinden müssen, um seine notdurft zu verrichten, wodurch er, mehr übel als wohl, plötzlich begriffen habe, begriffen am eigenen leib und mit seiner rechten hand, was eine notdurft sei…“ (S.29f)

Die Bilder, von denen die Träumenden verfolgt werden, die sie nicht loswerden und die sie lieber nicht hätten, streifen sie im Erzählen ab. Beim Traumklauber bleiben sie hängen, der sie in Schrift und auf Papier bannt und somit für die Träumenden kraftlos erklärt. Dann ist der Träumer erleichtert und kann sich wieder dem Tagesgeschehen zuwenden, während es nun am Traumklauber ist, den Traum in Erzählung zu verwandeln und brauchbar zu machen. Brauchbar für sich, denn der Traumklauber ohne Träume lebt bar dieser zweiten Welt, die seine eigene und einzige trostlos erscheinen lässt. Für ihn gilt nicht, was die anderen aus der hiesigen in diese andere, dunkle Welt, aus dem Erlebniswust des Tages in die Nacht transportieren. Er lebt fern der Traumwelt, die von der undurchdringlichen Masse der Erlebnisse schwer wird, sich aufs Gemüt legt und als eine andere Wahrheit erscheint. Der Träumer erwacht am Morgen verstört von den schiefen und verworrenen Bildern, die ihn da heimgesucht haben, den frischen Morgen stören und die Seele beschweren.

Der Traumklauber analysiert nicht, ist kein Traumdeuter, nicht einer der mit Symbolen aufwartet, auch nicht einer der versteht und erklärt, nein, er verwandelt nur alles vom „es ist geschehen“ in ein konsequentes „es sei geschehen“ und nimmt dem Fürchterlichen oder dem Rätselhaften die Präsenz. Denn offen bleibt, wer eigentlich erzählt in diesem fortwährenden Konjunktiv. Ist es der Traumklauber selbst, der den Träumenden misstraut? „Ein ungenauer Erzähler sei Arnold O. geworden, jetzt falle es ihm auf…“ (S.63) Oder handelt es sich gar um die Wiedererzählung der Erzählung des Erzählten? In langen mäandrierenden Sätzen, die durch die Kleinschreibung der Hauptworte den Erzählfluss auch optisch steigern, produziert Josef Oberhollenzer eine sanfte Nachdenklichkeit, die alles Erzählte als Annahme, aber nicht als Tatsache in Frage stellt. War es so? Hat der Träumer, die Träumerin das wirklich geträumt oder hat der Traumklauber hier etwas dazu erfunden, hat er nicht doch alles selbst geträumt? Der Traumklauber geht um in dieser bäuerlich-dörflichen Welt, deren Atmosphäre von einer Festigkeit der Strukturen geprägt ist. Wird diese Ordnung durchbrochen, tauchen die Träume auf – wenn etwa der Pfarrer die Mädchen und Frauen belästigt oder die Großmutter den Mann, von dem sie ein Kind erwartet, nicht geheiratet hat. Oder umgekehrt: über den Traum beginnt eine/r, den tatsächlichen Strukturen zu misstrauen, wie die Politikerin, die vom ihr zujodelnden Parteikollegen träumt. K., der Kindheitsfreund mit seinem ver-rückten Realitätssinn, ist der einzige, für den beide Welten auf schmerzhafte Weise ausweglos verschmelzen.

Josef Oberhollenzer ist ein sensibler Erzähler mit großer Wachheit für seine Umgebung. Die Südtiroler Heimat ist Hintergrund für eine Wahrnehmung, die unabhängig von Ort und Zeit ist. Er definiert die Beziehungen zwischen den Menschen über das, was aus dem Unterbewusstsein auftaucht und lässt jene Kontemplation zu, die den Träumern abhanden gekommen ist. Was der Träumer selbst radikal und schnell am liebsten dem Vergessen preisgeben möchte, behält sich der „Traumklauber“ vor, zu bewahren. So wird ein jeder Traum zu einem Kleinod dessen, was sich ins Bewusstsein gesenkt hat, im Traum kristallisiert und von des Menschen Seele wieder löst. Ein Stück Freiheit schwebt in jedem dieser Prozesse mit, das er – so wird es erzählt – den Träumenden mit seinem Aufschreiben schenkt.

Josef Oberhollenzer Der Traumklauber
Eine Erzählung in 52 Träumen.
Wien, Bozen: Folio, 2010.
144 S.; geb.
ISBN 978-3-85256-510-1.

Rezension vom 21.04.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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