#Roman

Der Trafikant

Robert Seethaler

// Rezension von Andreas Tiefenbacher

In seinem vierten Roman wagt sich Robert Seethaler erstmals in die Vergangenheit. 75 Jahre springt er zurück, ins Wien 1937 und 1938, wo gerade alle von der Politik „verhunzt, verpatzt, versaut, verdummt und überhaupt irgendwie zugrunde gerichtet“ werden und man daher auf Auslagenscheiben nicht nur „Schleich dich, Judenfreund!“ zu lesen bekommt. Die als staatsfeindlich erachteten Vermögen von Kommunisten und Querdenkern werden beschlagnahmt, jüdische Besitztümer eingezogen und jüdische Geschäfte geschlossen und an „brave Bürgerinnen und Bürger“ weitergegeben.

Als brav gilt jemand, der sich das Hakenkreuz „ins Hirn brennen“ lassen hat und andauernd seinen Arm „in die Höhe streckt“, was zwar auch dem jungen Protagonisten dieser eher unspektakulären, durch ihre souveräne Erzählhaltung (die das Schrille wie jede Form der Überladenheit gekonnt vermeidet) allerdings doch einigermaßen beeindruckenden Geschichte nicht entgeht; Anstalten, sich von diesem Massenphänomen mitreißen zu lassen, macht er allerdings keine, obwohl der siebzehnjährige Franz Huchel, welcher mit seiner Mutter ein kleines Fischerhaus in Nußdorf am Attersee bewohnt, wie geschaffen dafür scheint. Immerhin lernt man ihn als naiven, weltfremden Menschen kennen, der den Eindruck erweckt, als ließe er sich manipulieren. Denn Franz ist, als er in die „nach Abwasser, nach Urin, nach billigem Parfüm, altem Fett, verbranntem Gummi, Diesel, Pferdescheiße“ stinkende Stadt kommt, einer, der überhaupt nichts weiß, weshalb ihn Otto Trsnjek, in dessen Geschäft in der Alserstraße in Wien er den Beruf des Trafikanten erlernen soll, auch erst einmal zur Zeitungslektüre vergattert, der er sich täglich mehrere Stunden widmen muss. Nach und nach wird so aus dem „verblödeten oberösterreichischen Schafsschädel“ ein zumindest über die politischen Unübersichtlichkeiten informierter Kerl mit dem festen Willen, sich „im steilen Stiegenhaus zur Weisheit“ nach oben zu kämpfen.

Doch obwohl es ihm gelingt, Gedanken aus sich herauszuquetschen, „von denen er nie angenommen hätte, dass sie in ihm stecken könnten“, kommt er sich in der Nähe so genannter „gescheiter Leute“ fehl am Platz vor, traut sich dann aber doch, Kontakt zu Sigmund Freud aufzunehmen, der sich regelmäßig in der Trafik die Neue Freie Presse und eine Zwanziger-Kiste Virginias holt. Und weil eine Stunde in seiner Ordination so viel kostet wie ein halbes Schrebergartengrundstück, geht Franz davon aus, dass sich „der Deppendoktor“ mit Frauen auskennt, weshalb er den Professor aufsucht, als er sich unglücklich in das um drei Jahre ältere böhmische Pratermädel Anezka verliebt. Er ist fest entschlossen, dass eine Hoyo de Monterrey dem Zigarrenliebhaber einen Rat entlockt, der ihn von seinem Liebesunglück erlöst. Freud nennt ihm auch drei Rezepte: Er soll aufhören, über die Liebe nachzudenken, sofort nach dem Aufstehen alle Träume notieren und sich das Mädchen entweder zurückholen oder es vergessen.

In seiner moralischen Reinheit fällt ihm nichts Besseres ein, als nach der ersten Liebesnacht um ihre Hand anzuhalten. Anezka sieht jedoch, dass Franz nicht die Idealbesetzung ist, um diese lebensgefährlichen Zeiten zu überstehen, und wendet sich einem Nazi zu. Über die Maßen gekränkt, fühlt sich Franz, als hätte man ihm das Herz aus der Brust gerissen; eine Erfahrung, die damals im wahrsten Sinn des Wortes viele zu machen gezwungen sind. Dementsprechend sind die Geschehnisse von Abschied und Verlust geprägt: Alois Preininger, von dem Franz‘ Mutter finanzielle Zuwendungen erhält, kommt durch einen Blitz zu Tode; der „Rote Egon“ stürzt sich vom Dach; Otto Trsnjek wird wegen Verbreitung pornografischer Druckerzeugnisse verhaftet; Sigmund Freud ergreift die Flucht; und auch Franz selbst erfährt durch das Schicksal kein bisschen Schonung. Noch bevor er überhaupt auf der Welt ist, wird sein Vater, ein Waldarbeiter aus Bad Goisern, von einem Baum erschlagen. Dazu sei angemerkt, dass der Autor bei der Angabe des Ortes korrekterweise auf den amtlichen Beinamen „Bad“ verzichten hätte müssen, weil die Gemeinde diesen erst seit 1955 führt.

Ein wenig zu leichtfertig wird auch mit der historischen Figur Sigmund Freuds umgegangen, der als kleiner, alter, gebrechlicher Herr richtiggehend harmlos erscheint. Es gibt eine Reihe von ihm in den Mund gelegten, pauschalierend daherkommenden Äußerungen (wie zum Beispiel, dass man Frauen behandeln soll wie Zigarren, denn „wenn man zu fest an ihnen zieht, verweigern sie den Genuss“ oder „Die Liebe ist immer ein Irrtum“, weil man ja eigentlich „in einer immerwährenden Dunkelheit“ herumtapst und nur mit viel Glück „manchmal ein Lichtlein aufflammen“ sieht), von denen mehr Wahrsagermentalität auszugehen scheint, als dass man sie mit einer intellektuellen Persönlichkeit von Weltruf in Verbindung bringen würde. Im Kontext sind sie nett zu lesen, keine Frage, aber aus dem Mund einer Kapazität, als die man den Begründer der Psychoanalyse wohl bezeichnen darf, möchte man irgendwie doch gern Ausgefalleneres und Markanteres hören, was diese floskelhaften, in der Art von simplifizierender Analyse für Bauerntölpel formulierten Allgemeinplätze wohl eher nicht sind.

Den Hang zum leicht Kitschig-Sentimentalen unterstreicht auch der Auftritt des so genannten „Pechvogels“, der (während er sich im Kies wälzt) mit dem Schwanz wackelt und sein Gefieder schüttelt und immer dann auftaucht, wenn Seuchen, Kriege und andere Katastrophen bevorstehen.
Über individuelle Katastrophen in einer politisch repressiven Zeit berichtet dieser Roman einiges. Und er tut es auf recht spannende Weise, weil Seethaler weiß, wie man schreiben muss, um politische Bedrohung und die Bosheit der Menschen spürbar zu machen. Es ist ihm ein schönsprachliches Buch gelungen. Man liest es sehr leicht. Weder wechselt die Perspektive, noch wird in Kapitel unterteilt. Der Ton ist ruhig, sanft und mitunter humorvoll. Und es schwingt die Dramatik des sich ausbreitenden Schrecken immer mit. Da heißt es dann etwa ganz lapidar: „Ein Kommunist bringt sich um! Noch einer! Und noch einer!“
In Zeiten totaler Herrschaft sind eigene Meinungen eben nicht gefragt. Wer trotzdem darauf beharrt, kommt nicht ungeschoren davon. Das zeigt der Autor gekonnt und eindringlich. Als logische Konsequenz bleiben von den „verdrehten Hoffnungen hinter der Stirn“ am Ende nichts als Abschiede. Und der junge Protagonist gleicht einem Boot, „das im Gewitter seine Ruder verloren hat und jetzt ganz blöd von da nach dort treibt“.

Robert Seethaler Der Trafikant
Roman.
Zürich: Kein & Aber, 2012.
256 S.; geb.
ISBN 978-3-0369-5645-9.

Rezension vom 22.04.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.