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Der Strom

Gerhard Roth

// Rezension von Peter Landerl

Wenige Monate nach Gerhard Roths 60. Geburtstag ist nun sein neuer Roman Der Strom erschienen, der vierte Band (nach Der See, 1995, Der Plan, 1998, Der Berg, 2000) seines auf sieben Teile ausgelegten Zyklus Orkus. Das Handlungsgerüst ist rasch erzählt: Die Reiseleiterin Eva Blum ist aus dem 16. Stockwerk ihres Hotels in Kairo gestürzt. Thomas Mach, der eben sein Geographie- und Geschichtestudium abgeschlossen hat, wird nach Ägypten geschickt, um an ihre Stelle zu treten. Geleitet von Eva Blums Studientagebuch beginnt er, den Ursachen ihres Todes nachzugehen.

Seine Nachforschungen führen ihn durch die verrätselte Welt Ägyptens. Im Nachvollzug von Blums Reisen tritt ihm ein System von Zeichen und Symbolen entgegen, das es zu entschlüsseln gibt. Mach sucht, deutet, interpretiert, lässt sich von seiner Intuition leiten. Seine Wahrnehmungen verfremden sich allmählich, die Eindrücke verwischen, er taucht in dumpfe Wirklichkeiten. Roth hat sein altes Thema, die Grenzen zwischen den Universen des Normalen und Verrückten auszuloten, wieder aufgegriffen. Mach wandelt an dieser Grenze, wird von seiner inneren Stimme zu irrationalen Handlungen verleitet. Wie betäubt taumelt er durch die Hitze Ägyptens, von einer unsichtbaren Hand geführt, lässt sich die Haare rot färben, kämpft mit seiner Todessehnsucht.

Der Erzähler weist im Text sehr häufig auf die innere Stimme Machs hin, um die oft unlogischen Aktionen Machs dem Leser plausibel zu machen: „Er war entschlossen, seiner inneren Stimme keinen Widerstand entgegenzusetzen…“ Vielfach wirkt das Verhalten Machs aber unglaubwürdig, sind die Motivationen seiner Taten aus der Zeichnung seines Charakters einfach nicht schlüssig zu erklären, muss ein Sufimeister über die innere Stimme befragt werden.

Eine Schwäche des Buches ist Roths Insistieren auf der Bedeutung von Täuschungen und Zufällen, auf Verschlüsselungen und Erscheinungen, die bemüht und konstruiert wirken. Roth hat verschlüsselt, wo es nichts zu entschlüsseln gibt und entschlüsselt, wo nicht verschlüsselt wurde.

Mach trifft auf seiner rätselhaften Reise auf Figuren aus dem Orkus: Der Medikamentenvertreter Paul Eck aus Der See fiebert, an Malaria erkrankt, in einem Hausboot; Mach erzählt von Begegnungen mit dem Bibliothekar Konrad Feldt aus Der Plan; schließlich wird auch auf Jenner und Sonnenberg, zwei Figuren aus den Archiven des Schweigens, verwiesen: Ein Beziehungsgeflecht tut sich auf, noch nicht wirklich durchschaubar. Wie schon in den anderen Teilen des Orkus-Zyklus setzt Roth wieder auf einen Kriminalplot. Manche Passagen wirken wie aus einem billigen Schundroman: „Sein Herz war durch das große Kaliber herausgerissen worden und lag zuckend auf der Stiege. Eine schreckliche Stille trat ein, in der Schäffers Herz zu schlagen aufhörte und nur das gedämpfte Bellen der Hunde vom anderen Hausboot zu hören war.“

Die Detektion führt den Helden in eine fremde Kultur, die detailreich geschildert wird. Stellenweise liest sich Der Strom wie ein Ägypten-Reiseführer, darauf bedacht, Landschaft und Leute möglichst farben- und facettenreich zu beschreiben, was auch eindrucksvoll und kunstfertig gelingt, aber in einem eigenartigen Kontrast zur Kriminalhandlung steht und dem Roman einen labilen Eindruck verleiht. Hätte Roth auf den action-Plot verzichtet, wäre Der Strom ein wunderbarer Reiseroman geworden.

So hinterläßt er, wie auch die übrigen Romane des Orkus-Zyklus, einen zwiespältigen Eindruck, entgleitet einem bei der Lektüre. Roth will uns in den Orkus führen – hat er sich verirrt?

Der Strom.
Roman.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2002.
351 Seiten, gebunden.
ISBN 3-10-066056-0.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 10.09.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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