#Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen

Melitta Breznik

// Rezension von Karin Berndl

Der französische Philosoph und Schriftsteller Alain (Émile-Auguste Chartier) beschreibt es so: Jeder Mensch habe zwei Seiten – eine der Historie und eine dem Roman zugeordnet. Alles, was sich an einem Menschen beobachten lässt, wie seine Handlungen und Taten, ist dem Gebiet der Historie zuzuordnen. Seine romanhafte oder romantische Seite (sa partie romanesque ou romantique) umfasst seine Leidenschaften, seine Emotionen, das heißt seine Träume, Freuden und Leiden und seine Selbstbetrachtungen, die er aus guter Erziehung, Schamhaftigkeit oder anderen Gründen für sich behält; diese Wesensseiten des Menschen auszudrücken, sei die Hauptaufgabe des Romans.*

Sigmund Freud gelang es, in seinen Fallgeschichten einen raffinierten Kompromiss mit dem ewigen Dilemma von „innen“ und „außen“ zu schaffen und ein neues Genre in der psychotherapeutischen Literatur zu etablieren.
Melitta Breznik ist dabei, dies für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu tun.

Wie bereits in ihrem letzten Roman Nordlicht, in dem die 1961 in der Steiermark geborene Autorin und Ärztin die norwegisch-deutsche Kriegsvergangenheit als historische Folie für ihre Geschichte der Selbstfindung zweier Frauen auf der Suche nach dem Vater kunstvoll verwoben hat, bilden auch in ihrem neuen Buch die Geschichten zweier Frauen – in diesem Fall von Mutter und Tochter – die Hauptstränge in einer tiefschichtigen und generationenübergreifenden Erzählung, die nahezu das gesamte 20. Jahrhundert umspannt.

Der Roman beginnt mit dem Aufbruch zu einer Reise: Das Wiedersehen zwischen Mutter und Tochter, deren Entzweiung viele Jahre zurückliegt, steht kurz bevor. Am Geburtstort der Mutter in Bergen-Enkheim bei Frankfurt am Main soll das Treffen stattfinden. Margarethe, die mehr als neunzigjährige Mutter, lebt in einer, wie sie es nennt, „Altenklause“ in der Schweiz. Nach dem Tod ihres zweiten Mannes Alexanders musste sie das „Grüne Haus“, indem sie mit ihm und Freunden viele Jahre gelebt hatte, verlassen. Einzig der Freund und Mitbewohner Paul und Margarethe sind „übriggeblieben“. Die anderen Freunde sind zu ihren Kindern gezogen oder verstorben; sie selbst ist seit einer misslungenen Knieoperation an einen Rollstuhl gefesselt. „Die Trägheit des Alters hat längst begonnen. Ich bemerke sie vermehrt sein Alexanders Tod, weil jede Aktivität aus mir selbst kommen muss.“ Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihrem einzigen Kind und die Rückkehr an den Ort glücklich-unbeschwerter Kindheitstage mobilisieren Gedanken an schöne wie auch schmerzhafte Erlebnisse und Ereignisse ihres Lebens.

Tochter Lena bereitet sich auf ihre Weise auf das Wiedersehen mit der Mutter vor. Der frühe Tod des Vaters und das zunehmend distanzierte Verhältnis zu Margarethe haben sie bereits in jungen Jahren fortgeführt aus ihrer Geburtsstadt Wien. Nach einigen Lebensstationen hat sie sich nun in der zweiten Lebenshälfte als erfolgreiche Modedesignerin mit ihrem Mann und Freunden in einer alten Fabrik in London niedergelassen. Die Beziehung zur Mutter war immer schon distanziert, der Kontakt regelmäßig, aber spärlich. Nach dem Tod von Lenas zu früh geborenen Zwillingstöchtern war es schließlich zum endgültigen Zerwürfnis zwischen Mutter und Tochter gekommen.
Fünfzehn Jahre liegt dieser Streit zurück; nach vorsichtigen Annäherungsversuchen und zögerlichen Telefonaten soll es nun zu einem Wiedersehen kommen.
Abwechselnd kommen die beiden Ich-Erzählerinnen zu Wort. In ihren Reflexionen und Erinnerungen wird zunehmend deutlich, dass die Gründe für die Entzweiung der beiden Frauen weit tiefer liegen. Enttäuschte Erwartungen, unausgesprochene Vorwürfe, Verletzungen, Schuldgefühle stehen zwischen ihnen und brechen im Nachdenken über das bevorstehende Wiedersehen immer wieder durch: „Es ist seit Jahren immer dasselbe, ich leide, wenn Mutter weit weg ist, habe ein schlechtes Gewissen, komme mir undankbar vor, aber ich fühle mich beengt und wegen jeder Kleinigkeit kritisiert, wenn sie in meiner Nähe ist“, so Lena über ihr Verhältnis zur Mutter. Und Margathe: „[…] Es war uns unmöglich, irgendein Zauberwort zu finden, das Erlösung gebracht hätte. Einige Zeit hatten wir danach nichts mehr voneinander gehört, und ich hatte Angst, nach Max auch noch Lena zu verlieren.“

Zischen die beiden alternierenden Ich-Erzählungen spannt Breznik eine dritte über den fehlenden Dritten in dieser Geschichte: jene des verlorenen Mannes und Vaters Max. Zwischen den Erinnerungen der beiden Frauen werden rund um seine Figur die historischen Ereignisse und familiären Geschehnisse erzählt, die das Leben von Margarethe und Lena bewegt und beeinflusst haben.
Max hatte bereits 1934 seinen geliebten Großvater beim Februar-Aufstand zwischen Nationalsozialisten und Schutzbündlern in Kapfenberg verloren, war danach mit seinem Bruder als kleiner Junge in die Sowjetunion „verschickt“ worden, wo er als Wehrmachtssoldat diente und in englische Kriegsgefangenschaft geriet. Tief geprägt von den traumatischen Ereignissen des Jahrhunderts und schwer traumatisiert kehrt er zu Frau und Kind zurück und verschließt sich – keine Seltenheit für Kriegsheimkehrer – in den kommenden Jahren in schützendes Schweigen. „Max setzte sich im Bett auf, er war von seinem Schrei erwacht, das Nachthemd klebte schweißnass an seinen Schulterblättern. […] Er starrte an die von den Straßenlaternen erleuchtete Zimmerdecke und im selben Moment war er sich nicht sicher, ob er sich in Griechenland befand oder in der Wohnung in Wien. […] Hoffentlich würde er Lena nicht wecken, sein zartes Mädchen, dem er nicht sagen konnte, wie leid es ihm tat, kein richtiger Vater mehr zu sein, der mit ihr manchmal abends Karten oder Schach spielte.“
Als er seine Beine verliert und, wie Jahre später seine Frau, auch an den Rollstuhl gefesselt ist, verbringt er einen dunklen Tag um den anderen rauchend auf dem Balkon der Wohnung im Floridsdorfer Speiser-Hof.  Auf Anraten seines Therapeuten kommt er auf den „Steinhof“, wo er sich, von den ins Bewusstsein treibenden traumatischen Erlebnissen überwältigt, umbringt.
„Triangulierung“ ist ein gängiges Prinzip der Psychologie und therapeutischer Verfahren. Kurz gesagt: Es bedeutet das Hinzukommen einer dritten Person oder dritten Position in eine dyadische Konstellation. In der frühen Entwicklung ermöglicht das Hinzukommen des Vaters oder einer anderen Person dem Kind eine Loslösung aus der symbiotischen Beziehung zur Mutter. Dabei steht nicht der reale Vater im Vordergrund, sondern der Vater in seiner symbolischen Funktion: „Der Dritte/das Dritte“ hat dabei Vermittlungs- und Verweisungscharakter. Es wird dadurch möglich, Beziehungen von unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und neue Zusammenhänge herzustellen. Es öffnet sich ein „Möglichkeitsraum“, in dem Loslösung, Entwicklung und Veränderung geschehen kann.
Melitta Breznik wendet dieses Prinzip für ihren Text an: Zwischen den Erzählungen von Mutter und Tochter setzt sie die Erzählung des abwesenden Vaters und schafft somit einen gemeinsamen Raum, indem dem Leser/der Leserin die Dimension und tief greifende Wirkung geschichtlicher Ereignisse, die ihren Figuren widerfahren, verständlich werden.
Der Autorin gelingt damit auch ein kluger Kunstgriff, dank dem in diesem erzählerischen Raum auch das Dilemma zwischen „historischer“ und „romantischer“ Seite gekonnt überbrückt wird. Um die Lebenszusammenhänge anderer zu verstehen oder nachzuempfinden, braucht man Anknüpfungspunkte im eigenen Leben. Hier geht Melitta Brezniks „Doppelberufung“ als Psychiaterin/Psychotherapeutin und Schriftstellerin wohl im besten Sinne auf.
Vererbte und übertragene Traumata, sich wiederholende Lebensgeschichten sind nur einige der Themen, die die viele Jahre als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in der Schweiz tätige Schriftstellerin den Lesern von Der Sommer hat lange auf sich warten lassen zur Deutung anbietet. Breznik schreibt so klar, wie sie beobachtet, und gestaltet ihre Bilder so bewusst wie ihre Sprache. Im Zentrum stehen für die Autorin die Geschichten ihrer Figuren, denen sie ihr sich immer wieder zurücknehmendes, ja distanzierendes Schreiben verpflichtet. Ihre Figuren sind dabei immer mehr als die Summe ihrer Geschichten, denn sie nehmen Gestalt an auf einem tief reichenden historischen Tableau. Und doch, oder gerade deshalb, gelingt der Autorin am Ende das literarische Bravourstück einer intensiven Wiederbegegnung der beiden so verschiedenen Frauen – als Geschichte wie als literarisches Bild -, etwa wenn nach dem ersten Wiedersehen mit ihrer eigenen Tochter Margarethe vor dem Zubettgehen noch am Fenster steht und von diesem aus eine Mutter mit ihrem Kind im gegenüberliegenden Haus beobachtet: „Sie bleibt eine Weile so stehen, ganz ruhig, vollkommen versunken und eins mit dem Kind auf ihrem Arm.“

* Frei übersetzt nach E. M. Forsters Aspects of a Novel (1927, 2012 neu aufgelegt).

Melitta Breznik Der Sommer hat lange auf sich warten lassen
Roman.
München: Luchterhand, 2015.
256 S.; brosch.
ISBN 978-3-442-74962-1.

Rezension vom 01.09.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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