#Roman

Der Schneeflockenforscher

Fritz Lehner

// Rezension von Redaktion

Nichts Geringeres als die Suche nach dem Sinn des Lebens ist das Grundthema von Fritz Lehners jüngstem historischen Roman, einem üppigen Meisterwerk, das beweist, dass keineswegs Schnee von gestern ist, was Menschen in vergangenen Jahrhunderten bewegte. Der Schneeflockenforscher Jakob Kreutzer, Türmer von Freistadt in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges, findet sein Glück zuweilen in der Liebe, im Trinken, im Forschen und im freudigen Sinnieren über sein Leben als wertvolles Mitglied der Gesellschaft und als glücklicher Mensch – seine Hölle hingegen in der Eifersucht, in nagenden Selbstzweifeln und dem Sinnieren über sein verpfuschtes Leben als ewiger Zauderer. Das Dasein ist eben ambivalent. Und einem, der nachdenkt, wird das nicht verborgen bleiben. Frei nach Sartre ist jeder sich selbst die Hölle. Oder auch der Himmel – je nachdem.

Die anderen sind allerdings auch nicht zu unterschätzen. Was sind wir doch abhängig von unserer Zeit – von den Möglichkeiten, die sie bietet und von den Grenzen, die sie setzt. Und von unserem Umfeld – verorten wir uns nicht gerne im Vergleich mit anderen? In unserer Rolle, die wir in ihrem Leben und in der Gesellschaft spielen (könnten?)
Ungeheuer lebendig ersteht vor uns das (früh)neuzeitliche Freistadt mit den Ängsten und Hoffnungen seiner Bürger, den Aufständischen der Bauernkriege und dem Hin und Her der religiösen Mächte. Raffael, der Schmied, schmiedet Morgensterne und Ränke gegen die Obrigkeit, der beliebte katholische Priester Theophil, des Türmers leiblicher Vater, liebt nicht nur Gott, sondern auch die Frauen, die er zuweilen gesegneten Leibes hinterlässt, und der gewiefte Händler Jan Janusch Sibirsky ist der Bote aus der großen weiten Welt, die bis nach England reicht und nach Sibirien.

Fritz Lehner (übrigens selbst Freistädter) beschreibt seine Heimatstadt im Spannungsfeld zwischen Linz und Prag, zwischen kaiserlicher Macht und bäuerlicher Gewalt, zwischen Katholizismus und Protestantismus – am Ende ihrer Blütezeit und am Vorabend der Aufklärung. Stark ist bereits das Selbstbewusstsein des städtischen Bürgertums (ein Bürger wiege schließlich mehr als zehn Bauern auf), aber auch letzte Grüße mittelalterlicher Gebräuche und Beschaulichkeit bestimmen den Alltag: Die Macht der Kirche (mal der einen, mal der anderen) ist nahezu ungebrochen. Die des Aberglaubens auch. Stunden und Tage sind im Überfluss vorhanden, relativ und naturgebunden: Noch sind Uhren nahezu unerschwinglich, noch werden die Stunden nicht in Minuten eingeteilt, noch erscheinen die Tage biegsam und unermesslich. Aber gleichsam sinnbildlich tickt schon die moderne Zeit, wenn auch nur jenen, die fortschrittlich genug sind, sie wahrzunehmen. Denn neue Erkenntnisse stören die alte göttliche Ordnung, große Namen wie Galilei und Kepler hört nicht jeder gern, und ein forschender Türmer teilt sein Wissen wohlweislich nur mit ausgewählten Vertrauten, will er nicht am Scheiterhaufen enden.

Und außerdem, wozu soll sie denn gut sein, die ganze Forscherei, bringt sie ihm doch die geliebte Frau nicht so nahe, wie er sie gerne hätte und bald entgleitet sie ihm vollends, seine Marie, in das zwei Tagesreisen entfernte Vöcklabruck. Aus den Augen, aber keineswegs aus dem Sinn, den er sich nun tagtäglich im Wirtshaus vernebelt, ein lange gehegtes Vergnügen, denn „auch das Biertrinken war für ihn ein Handwerk, das man im Sitzen ausüben konnte“. Deneben die Kräuter des Köhlers, ebenfalls ein Genuss, wenn auch ein nicht ganz ungefährlicher. Neben der scheinbar unerreichbaren Marie, der großen Liebe seines Lebens, gibt es auch noch die erfahrene, derbe, ausgelaugte Barbara, die die letzten Jahre ihres Lebens mit ihm teilt, auf ihrem Kellerlager unterm Wirtshaus. Hier nimmt der Türmer Jakob Kreutzer gleichsam Urlaub von sich selbst, reduziert sich auf seine wesentliche Körperlichkeit und ertränkt sein Denken im Bier.
Bis er von ihrem Totenlager gleichsam aufersteht und seine Sinne wieder sammelt und lüftet oben auf seinem Turm, sinnierend über so viel verlorene Zeit, verlorene Jahre. Oder doch schöne, ruhige Jahre?

Was ein Mensch am gescheitesten anfange mit seinem Leben, damit er es zu Bedeutung bringe – oder ist das alles nichts als Eitelkeit? Vermessenheit des Menschen, in die göttliche Schöpfung eindringen zu wollen? Und doch, Jakob spürt, er ist seiner Zeit voraus, er fühlt sich Kepler verbunden, dem „Freund und Bruder im Geiste“ (569) und beschäftigt sich in einer deftigen, kriegerischen Welt mit den leichten, friedlichen Flocken. Den flüchtigen Schneesternen, die er nur mit Hilfe Maries auf Papier zu bannen imstande ist, vielfach vergrößert. Betrachtet durch Flaschenböden, Tieraugen, ein gestohlenes Leseglas und später sogar ein Mikroskop, durch das er jahrelang nicht zu schauen wagt, weil er seinem Augenlicht nicht mehr traut. Der Türmer Jakob – wieder einmal vor dem Leben getürmt. Doch dem Leben in seinem Kopf, wohl dem eigentlichen, turbulenten Leben, ist und bleibt er ausgeliefert bis zuletzt. In seiner Angst vor der Blindheit tatsächlich blind für die Vorgänge rings um ihn herum. Fritz Lehner schildert ihn nicht ohne leise Ironie.

Glücksgefühle stellen sich ein in der Erkenntnis, im Überblick von oben, über die Stadt und über das Leben, im Teilen der Erkenntnis mit anderen, in Freundschaft und Anerkennung – und ein wenig bei Barbara und sehr bei Marie, der Heimgekehrten. Jakob hat seinen Sinn des Lebens in Forschung, in Liebe und Rausch nicht nur gesucht, sondern immer wieder auch gefunden. Auch wenn der Sinn vielleicht nicht immer ganz der gleiche der war. Wie die Schneesterne schmilzt er dahin, wenn man ihm zu nahe kommt.
Darum gilt es immer neue, verschlungene Wege zu finden, sich ihm zu nähern. Jakobs Forschung gerät immer mehr zur faustischen Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält: „Das Entscheidende waren weder feinstes Eisgefieder noch glitzernde Salzkristalle, auch nicht Lebewesen in der Größe von Flöhen oder gar grobschlächtige Schmetterlinge, sondern die geheimnisvolle Gewalt, die alles fügte und ewig zusammenhielt.“ (571)

Dieser Weg hin zur abstrakteren Reflexion auf Basis des Konkreten spiegelt sich auch in den Teilen des Romans: Die ersten Kapitel spiegeln die vier Elemente: Das Wasser, das Marie beinahe verschlingt, die Luft, die Erde und das Feuer. Das nächste Kapitel heißt Licht. Nicht dass es die Erleuchtung bringt, so platt schreibt Lehner nicht, er lässt bei allem Denken und Reflektieren, das er Jakob zugesteht, zwischen seinen poetischen Zeilen in epischer Breite noch genügend Raum für die Phantasie und die Assoziationen der Lesenden.
Der letzte Teil trägt den Titel Ewigkeit und wir begleiten Jakob tatsächlich bis zu seinem letzten Atemzug und darüber hinaus in den Epilog aus der Feder seiner Tochter. Und programmatisch klingt der allerletzte Satz dieses Romans wie ein Vermächtnis: „Damit das Leben weitergeht.“

Fritz Lehner Der Schneeflockenforscher
Roman.
Wien: Seifert Verlag, 2009.
624 S.; geb.
ISBN 978-3-902406-48-4.

Rezension vom 02.06.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.