#Roman

Der rote Rock

Inge Merkel

// Rezension von Alexander Kluy

Nachlasseditionen, das benötigt keine besondere Betonung, sind stets heikel. Entweder ist der letzte, gestaltende Wille des Autors oder der Autorin bekannt gewesen. Und dann wird ein Werk vorgelegt, bei dessen Lektüre doch nichts anderes denn Dezenz spürbar wird. Oder es handelt sich um eine Kompilation, die Erben, Freunde oder gar der Verlag aus wenig bis gar nicht geordnetem Material zusammenstellen, weshalb es häufig zu mehr als unbefriedigenden Ergebnissen kommt.

Dass diese editorischen Gedanken beim jüngsten Buch Inge Merkels in den Sinn kommen, ist nahe liegend. Verstarb sie doch im Januar 2006 wenige Monate nach ihrem Umzug nach Mexiko; ihr langjähriger Lektor und Verleger Jochen Jung, den sie zu ihrem Nachlassverwalter berief, kannte zwar einige Passagen aus dem Buch, an dem sie bereits einige Zeit gearbeitet hatte, und hatte diese auch schon lektorischer Durchsicht unterzogen. Doch was nun unter dem Titel Der rote Rock vorliegt, ist doch etwas anderes. Zugleich zeigt dieser Text die Wienerin Inge Merkel, wieder, als sprach- und bildmächtige Autorin.

Geplant hatte sie wohl einen ausgesprochen autobiografisch durchtränkten Text. Kindheitserinnerungen – Gespräche mit dem knurrigen Großvater aus Krems beispielsweise über Kirtagsrituale, Schulerinnerungen nach dem März 1938, ebenso die Vision des fünfjährigen Mädchens, wie ihre Mutter aus einem Stiegenhausfenster in den Tod fällt, angetan mit dem Titel gebenden roten Rock –, Schilderungen eines surreal katholischen Wien inklusive einer „Hetz“ und Beobachtungen einer gen Mexiko aufgebrochenen, dort innerlich nie angekommenen Achtzigjährigen lassen mutmaßlich rekonstruieren, worauf Merkel abzielte. Auf einen Abschluss ihres ohnehin spät begonnenen Werkes? – Eine solche Behauptung lässt sich nur mit Fragezeichen versehen.

Erst im Alter von 61 Jahren, in dem „normale“ Autoren üblicherweise die Kurve ins Spät- und Alterswerk nehmen, hatte die Gymnasiallehrerin für Deutsch und Latein als Romancière debütiert. Was sie sprachlich konnte, das zeigt sie auf den ersten Seiten dieses taktvoll als „Fragment“ rubrizierten Büchleins. Hier schwingen Töne und Glockengeläut über die Stadt, durchbrausen sie, geht es gelehrt und belesen und doch rhythmisch überzeugend zu. Glaube und Gottgeborgenheit, spirituelles Defizit und Interkonfessionalität, steter roter Faden der mit einem österreichischen Juden verheirateten Katholikin Inge Merkel, klingen hier im buchstäblichen Sinne an. Es findet sich aber kurz darauf auch ein Traum, eine dystopische, dynamisch-wortstürzende Vision, wie Wasser in eine Kapelle eindringt, deren Mauern sprengt und sie restlos zerstört.

Auch anderes ist hier zu finden, sehr Diesseitiges. Nämlich Skepsis, Verzweiflung, auch Depression. Nicht nur bei der alten Dame, die sich selbst in eine hochexotische Szenerie verschleppt hat, wo des Nachts Kojoten in das Rancho eindringen, ja selbst, als seien es Dämonen, in ihren Schlafraum. Schon beim kleinen, schätzungsweise fünf- bis sechsjährigen Mädchen sind Einsamkeit, Verzweiflung und Depression mit Händen zu greifen. Am härtesten im Akt der Zurückweisung der Mutter – diese verweigerte im Kindbett die Entgegennahme des eben geborenen Kindes, verhielt sich später auch scharf beobachtend, aber nie übermäßig affektiv.

Es sind scharf gezeichnete Szenen, die Merkel zu Papier gebracht hat. Die sie, wie Jochen Jung in seinem ausgesprochen dezenten Nachwort erwähnt, nicht zu Ende führte, nicht zu einem zusammenhängenden Buch finalisieren konnte. Anderthalb Jahre vor ihrem Tod hörte sie ganz zu schreiben auf. Die 26 Manuskriptseiten, die ihre Tochter Jochen Jung zukommen ließ, machen den sehr schmalen Nachlass dieser bemerkenswerten Autorin aus. Dass dieses Büchlein doch noch erschienen ist, in nie intendierter Form, allerdings merkwürdig hochpreisig annonciert, ist nicht genug zu loben. Denn auch bei Inge Merkel, in den 1980er Jahren eine bekannte, von der Kritik gerühmte, viel gelesene Autorin, ist der beklagenswerte Fall eingetreten, dass sich später das Publikum von ihr abwandte, an ihren überbordend theo-philosophischen, vom Wissen des Abendlandes gesättigten Aventiurebüchern nicht mehr recht Anteil nehmen wollte.
So ist der „Rote Rock“, in dem sie die schöne Figur des Comes imaginierte, eines lebenslangen Menschen-Begleiters, der mehr ist als ein Schutzengel und doch weniger als ein aktiv Eingreifender, eine lesenswerte Ergänzung von „Das andere Gesicht“, „Die letzte Posaune“ und dem im letzten Jahr im Manesse Verlag neu aufgelegten Roman „Das große Spektakel“. Ein Schlussstein ihres Opus kann „Der rote Rock“ nicht sein.

Inge Merkel Der rote Rock
Ein Fragment.
Mit einem Nachwort von Jochen Jung.
Salzburg: Jung und Jung, 2009.
80 S.; geb.
ISBN 978-3-902497-9.

Rezension vom 30.06.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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