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Der potemkinsche Hund

Cordula Simon

// Rezension von Gerald Lind

Die verschrobene Wissenschaftlerin Irina erweckt mit einem Frankenstein’schen Experiment den toten und von ihr heimlich geliebten Anatol wieder zum Leben. Im Glauben, dass ihr Versuch misslungen ist, flüchtet sie in die Geburtsstadt Lenins. Der plötzlich wieder lebendige Anatol hingegen irrt durch Odessa, nicht wissend, was geschehen ist.

Kann man aus so einem Stoff einen guten Roman machen? Cordula Simon kann es. So abgedreht die Handlung scheinen mag, so grandios wird sie von Simon inszeniert. Mit lakonischer Genauigkeit beschreibt sie, wie Anatol sich von den Nähten befreit, mit denen ihm vom Totengräber alle Körperöffnungen verschlossen wurden. Auf jedes Detail achtend folgt sie dem Wiedergänger durch ein von goldbezahnten Zigeunerinnen, Schaustellern mit Affen und Krokodilen, Gangstern und Milizionären bevölkertes Alptraumodessa. Ohne belehrend zu wirken erschließt Simon politisch-soziohistorische Hintergründe – die Sowjetvergangenheit, Russen vs. Ukrainer. Über beziehungsreiche Metaphernkonstanten – Gontscharows Oblomow, die Kakerlaken – führt die Autorin in die tiefer liegenden Bedeutungsschichten des Textes. Der potemkinsche Hund hat Witz, in dem immer auch eine Spur von Tragik liegt und der vom Einzelfall auf größere Bezugssysteme verweist: Irina verbringt eine halbe Nacht in Lenins Bett, sie friert und überlegt, „dass sie masturbieren könnte, in Lenins Bett masturbieren, ob sie die Erste war, die außer ihm selbst auf diese Idee kam?“ (114) Stimmungs- und schmerzvoll, aufwühlend und erschütternd ist schließlich der an Jelinek’sche Geschlechterverfehlungsszenen erinnernde Kreuzungs- und Kulminationspunkt von Anatols und Irinas Geschichten.

Getragen wird der Text von seiner ausgeklügelten Komposition. Um die linear erzählten Irr-Wege der Hauptfiguren Anatol und Irina legt die Autorin chronologisch verschobene Puzzlesteine mit den Perspektiven von Nebenfiguren aus, die auf hintergründige Weise Handlungszusammenhänge offen legen. Dabei zeigt Simon nicht nur, dass sie ausgezeichnet über die „unteren 10.000“ Odessas Bescheid weiß. Vor allem wird im Verlauf des potemkinschen Hundes deutlich, dass die Autorin gänzlich verschiedene Perspektiven absolut glaubwürdig erzählen kann. Sogar die riskante Aufgabe, die Welt aus dem Blickwinkel des Titel gebenden Hundes zu beschreiben, gelingt Simon auf bestechende Weise: „Das Einzige, wovor er mehr Angst hatte als vor den Katzen, waren Flöhe. Man kann nach ihnen beißen, aber sehen kann man sie nicht. Gerade nachts fallen sie über einen her. Aber wir können eben nicht fliegen, wir sind eben das neue Proletariat. Es soll aber schon Hunde gegeben haben, die fliegen gelernt haben, nicht die fledermäusigen, die sind eher Ratten als ordentliche Köter, sondern in Kapseln hinaus ins All.“ (143)

Das alles übergreifende Thema von Simons Roman ist die Verhandlung, Verwischung, Überschreitung und Auflösung von Grenzen: zwischen Leben und Tod, zwischen Ost und West, zwischen Mann und Frau, zwischen Verrücktheit und Normalität, zwischen Traum und Realität, zwischen Mensch und Tier, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zwischen Sein und Nichtsein. Beispielhaft zeigt sich dies an Anatols gescheitertem Versuch, sich wieder für lebendig erklären zu lassen. Die Bürokratie kann die vorgefundene Grenzüberschreitung nicht einordnen, das Unklassifizierbare nicht klassifizieren. Nur über Bestechung – eine Übertretung der Gesetzesgrenze – würde das Unmögliche möglich, würde Anatols Auferstehung sozusagen amtlich. Doch ein Toter hat nicht nur keine Papiere, sondern auch kein Geld und Anatol springt aus Wut und Hoffnunglosigkeit über den Schalter – wieder eine Grenzüberschreitung – und dem Beamten im wörtlichen Sinne an die Gurgel. In dieser Szene zeigt sich auch deutlich ein für viele Aspekte des Roman gültiger Realismus im Surrealismus: Anatol ist in einer Situation, in der sich Asylwerber – ebenfalls Grenzüberschreiter – befinden, die ohne Papiere, Familie, Freunde und Geld ihre Identität und Verfolgungsgeschichte bestätigen sollen, um so eine Existenz außerhalb des „nackten Lebens“, wie es Giorgio Agamben nennt, erlangen zu können.

Wie jeder Roman, so bietet auch Der potemkinsche Hund Potential für Problematisierungen: Greift die Autorin zu stark in die Klischeekiste, um Odessa als das exotische Andere für ein westliches Publikum interessant zu machen? Warum denkt Irina, die ja als Wissenschaftlerin zur Bildungselite gehört, in den traditionellsten Bildern über Mann-Frau-Beziehungen nach? Sind wirkliche alle ukrainischen Männer Wodka trinkende und korrupte Machos? Müssen es ausgerechnet Zigeunerinnen sein, die den Wiedergänger sofort als solchen erkennen?

Auch auf der stilistischen Ebene könnte man den einen oder anderen zu langen, zu komplizierten Satz, die eine oder andere vielleicht zu originell sein wollende Metapher – „Die Stadt war ein Geheimnis geworden über Nacht, eine Braut, die ihre Beine für ihn nicht öffnen wollte.“ (35) – bemängeln.

Wenn man diese Einzelaspekte aber nicht isoliert, sondern im Hinblick auf das Romanganze betrachtet, zeigt sich: Simons Sprache mag verschachtelt sein, aber es gelingen ihr viele wunderbare poetische Bilder und brillante Sätze – „Ich habe Narben gesammelt.“ (163). Ihre Darstellung ukrainischer Lebensweisen betont die Differenz zu westlichen Rationalismen, doch ist das im Kontext der magisch realistischen Erzählung zu verstehen. Der Raum, vor allem Odessa, erhält schließlich gerade durch die zugespitzte Beschreibung eine für die Handlung wichtige Atmosphäre des Abgründigen, Ruinösen, Geheimnisvollen, Skurrilen.

Cordula Simon hat mit Der potemkinsche Hund ein hervorragendes Debüt vorgelegt, erzählerisch souverän, mit starken Bildern und Figuren. Das Risiko, keinen von Kindheit an vertrauten, sondern einen auch für die Autorin erst zu ergehenden, erlebenden, erfahrenden Schauplatz zu wählen, hat sich bezahlt gemacht. Am liebsten würde man mit Simons Roman im Gepäck nach Odessa fahren, über die Potemkinsche Treppe spazieren, mit gutherzigen Marktfrauen plaudern und streunende Hunde streicheln. Irgendwo am Strand würde man sich dann in den Sand setzen, für einen Moment auf das Schwarze Meer hinausschauen, und schließlich zu lesen beginnen: „Am 31. August dieses Jahres verstarb Anatol Grigorjevi? Ivanov. Am 3. September desselben Jahres stieg er aus dem Grab.“ (7)

Der potemkinsche Hund.
Roman.
Wien: Picus Verlag, 2012.
208 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-85452-688-9.

Homepage der Autorin

Rezension vom 10.09.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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