#Sachbuch

Der Pinzgau unterm Hakenkreuz

Rudolf Leo

// Rezension von Dirk Krüger

Stefan Zweig floh während seiner Salzburger Jahre gerne vor dem sommerlichen Trubel in den Pinzgau, nach Thumersbach am Zeller See. Von dort schrieb er 1931 an Friderike: „Im Hause alles gut, auch nebenan Leute etc. ausgezeichnet, nur grässliches Volk, Unterdeutsche. Die Hakenkreuzlerei hat den Mittelstand ergriffen, […] er zäumt diesen Menschen, die nur durch große Bescheidenheit erträglich wären, ein stupides Herrentum oder Ich-möchte-Herrentum auf. Immerhin interessant, von der Nähe zu sehen.“

Eine Beobachtung aus der Nähe ist auch das Anliegen des aus dem Pinzgau gebürtigen Historikers Rudolf Leo. Er will mit seiner Regionalgeschichte, der eine Dissertation zugrunde liegt, die Auswirkungen der NS-Diktatur durch Einzelschicksale greifbar machen und den Opfern, wie der Klappentext verlautet, eine Stimme geben. Mit seiner Heimatregion hat Leo dafür ein gutes Anschauungsbeispiel gewählt: Stefan Zweigs Beobachtung war keine bloße Momentaufnahme, Zell am See war früh eine braune Hochburg im Land Salzburg. Im Jahr von Zweigs Aufenthalt ging, so Leo, bei der Gemeinderatswahl in der Bezirkshauptstadt „fast jede dritte wahlberechtigte Stimme“ an die Nationalsozialisten. Im Jahr zuvor hatte man in Zell am See nach den Gewinnen der NSDAP bei den deutschen Reichstagswahlen einen vielbesuchten „Gautag der Hitlerpartei“ abgehalten. Daran nahmen viele Nationalsozialisten aus Deutschland teil, eine Zusammenarbeit, die nach dem Verbot der NSDAP im Austrofaschismus über die nahe bayerische Grenze intensiv beibehalten wurde. Die Nationalsozialisten – explizit männlich gemeint, im Pinzgau sei die NSDAP eine „Männerpartei“ gewesen – hätten ihre Anhänger im Pinzgau aus allen politischen Lagern, nicht primär aus dem nationalen Lager, rekrutiert, wie Leo betont.
Das mag einer der Gründe sein, warum die Nazis hier vor dem „Anschluss“ sehr selbstbewusst auftreten konnten. Das zeigt deutlich ein Beispiel des im Buch präsentierten beeindruckenden Fotomaterials aus dem Pinzgauer Bezirksarchiv: Die Aufnahme aus dem Jahr 1937 zeigt den Gipfel des Kitzsteinhorns bei strahlendem Wetter und den weiten Ausblick auf die Pinzgauer Bergwelt, auf dem Gipfelkreuz haben Bergsteiger ein großes Emblem mit Swastika und dem Spruch „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ angebracht; ein Bergsteiger lehnt sich mit einer Hand an das Gipfelkreuz, die andere steckt leger im Hosensack der Knickerbocker – ein Bild der Gelassenheit, des großen Selbstbewusstseins, ohne jede Aufgeregtheit trotz illegaler Betätigung.

In den stärksten Passagen gelingt dem Autor ein dichtes Bild der Auswirkungen der Schreckensherrschaft im Kleinen, vor allem das engmaschige Netz des Denunziantentums, auf dem das Regime aufbaute, schildert er in vielen Beispielen eindringlich. Und die erklärte Intention, den (bekannten) Opfern ein Andenken zu schaffen, setzt er mit einer schon durch die schiere Zahl (über 200) beeindruckenden alphabetischen Liste der Pinzgauer Opfer im Anhang um.
Leider muss man bei der Lektüre Abstriche machen, der Ungenauigkeiten sind nicht wenige. So war es eine gute Idee, eine Karte des Pinzgau auf dem Vorsatzblatt zu platzieren, aber diese Idee wurde sehr ungenau umgesetzt, viele Orte sind falsch eingezeichnet. Für einen Salzburger unterlaufen Leo viele topografische Fehler: Saalfelden ist kein Eisenbahnknotenpunkt, Bruck liegt zwar am Beginn der Großglockner-Hochalpenstraße, ist aber nicht Ausgangspunkt der Ersteigung des Glockners, Badgastein gehört zum Pongau, und Göring besaß die Burg, nicht das „Schloss“ Mauterndorf. Beim Umgang mit der Nazi-Diktion tut sich der Historiker schwer: „Lebensraum“ schreibt er ohne Anführungszeichen, „Deutsches Reich“ – eigentlich kein Nazi-Wort – mit. Und vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs bei den Maßnahmen des Regimes gegen die katholische Kirche von einem „Krieg gegen die Kirche“ zu sprechen, ist nicht glücklich formuliert.
Im Abschnitt „Deserteure und ihre Familien“ gibt es ein einziges Mal und unvermittelt einen Sprung in unsere Gegenwart: Leo führt den äußerst schweren Stand, den die „Kameradenmörder“ seit dem Ende des Kriegs in der Bevölkerung hatten, an und meint: „Erst ein parlamentarischer Antrag der Grünen 1999 bringt den Wendepunkt“, der zum „Anerkennungsgesetz 2005“ geführt habe. Das hat durchaus seine Berechtigung, aber dieser einmalige „Ausflug“ in die Jetztzeit ist nicht als Exkurs kenntlich gemacht und in keine breitere Auseinandersetzung eingebunden. Außerdem bleibt hier ein Beigeschmack: Wie man aus dem Klappentext erfährt, arbeitet der Autor seit 1997 in verschiedenen Funktionen für die Grünen.

Die hauptsächliche Leistung Rudolf Leos besteht darin, aus den Standardwerken zur Geschichte Salzburgs im „Dritten Reich“ – etwa Ernst Hanischs Gau der guten Nerven (1997) oder Widerstand und Verfolgung in Salzburg 1934-1945 des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (1991) – die Regionalgeschichte des Bezirks Zell am See zu kompilieren. Das ist keine kleinzuredende Leistung. Aber es ist sehr schade, dass der Autor nicht die selbst aufgesuchten lokalen Archive stärker in den Mittelpunkt gerückt oder die oral history – die übrigens methodologisch nicht eingebettet ist – ausgebaut hat.
So fand er etwa im Salzburger Landesarchiv den Nachweis, dass erste Pläne zur Errichtung eines Nationalparks auf dem Gebiet der Hohen Tauern aus dem Beginn der vierziger Jahre stammen – was natürlich in Widerspruch zur Errichtung großer Wasserkraftwerke wie Kaprun stand. Die spannende Auseinandersetzung zwischen Naturschützern und der Stromindustrie deutet er ebenso wie die Rolle des „Gauleiters für den Naturschutz“, Paul Eduard Tratz, nur an. Gerade die Zusammenarbeit von Tratz, der von 1949 bis 1976 unbehelligt Leiter des Salzburger „Haus der Natur“ sein konnte, mit der SS-Organisation „Ahnenerbe“ wäre weiterer Ausführungen wert gewesen, zumal Leo die von dieser SS-Abteilung betriebene KZ-Außenstelle auf Schloss Mittersill im Oberpinzgau sehr wohl erwähnt.
Das Landesarchiv birgt Hinweise auf die großen Tragödien im Kleinen: Einer Familie wird 1942 untersagt, ihren zweiten „auf dem Felde der Ehre“ gefallenen Sohn nach katholischem Ritus begraben zu lassen. Und in diesem Archiv entdeckte Leo auch den – wohl nicht nur für diese Region bezeichnenden – Beleg, dass im Pinzgau 1946 nur drei Gemeindebedienstete „aus politischen Gründen“ pensioniert worden seien. „Alle anderen Gemeinden haben ,Fehlmeldungen‘ an die Landesregierung erstattet. In den Gemeindestuben, so die Angaben der einzelnen Bürgermeister, sind und waren nie Nationalsozialisten beschäftigt.“

Rudolf Leo Der Pinzgau unterm Hakenkreuz
Diktatur in der Provinz.
Salzburg: Otto Müller, 2013.
256 S.; geb.
ISBN 978-3-7013-1209-2.

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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