#Prosa

Der Papst und das Mädchen

Robert Schneider

// Rezension von Eva Magin-Pelich

Robert Schneider, gefeiert für „Schlafes Bruder“ und erheblich kritisiert für die Folgebände seiner Trilogie, veröffentlichte jetzt bei Reclam Leipzig einen kleinen Band mit einer Novelle, der von Helga Genser illustriert wurde. Nach den vielen Unmutsäußerungen zu Schneider und den auf das Debüt folgenden Romanen sei es gleich zu Beginn gesagt: Der Papst und das Mädchen war mir die Lektürezeit wert! Zur Inhaltsangabe reichen erst einmal zwei Sätze:
Loredana Felice, ein neunjähriges Mädchen aus Rom, verirrt sich bei einem Schulausflug im Petersdom. Sie gerät in die Privatgemächer des Papstes, den sie dort nicht nur antrifft, die beiden verbringen auch mehrere Stunden miteinander im Gespräch.

Dieser komisch-tragische Text wimmelt nur so von Vätern, sehr schnell stellt sich heraus, „Vater“ ist das Schlüsselwort der in drei Abschnitte gegliederten Novelle. Es ist ein Text über die verschiedenen Arten von Vätern: abwesende Väter, anwesende Väter, Missbrauch betreibende Väter, Ersatzväter, ratlose Väter, erfolglose Väter, trinkende Väter. Beeindruckend ist in diesem Zusammenhang, wie es dem Autor gelingt, auf 142 Seiten im Kleinformat die verschiedenen Typen von Vätern zu porträtieren, ohne dass diese selbst auftauchen müssen. Interessant und deprimierend auch die Entdeckung, dass sich in dieser Novelle lediglich der Ersatzvater als ein erfolgreicher Vater präsentieren kann.
Es ist aber auch ein Text über die Bedeutung von Vätern für Kinder, über ihre Liebe zu den Vätern und den verbalen Wettstreit um den besten Vater. Die Tragik hinter den harmlos scheinenden Streitgesprächen zeigt sich bald, denn jedes der Kinder leidet unter seinem vorgeblich doch so guten Vater, der in Wahrheit immer ein verlorener Vater ist: da ist Loredanas biologischer Vater, der die Familie verlassen hat, oder Hasenrosas Vater, der seine 11-jährige Tochter missbraucht, Grillos Vater, ein trockener Trinker, oder der Vater des Papstes, der sich in seinem Leben verlor und als Alkoholiker an seiner Lebenslüge zugrunde ging. Und auch der Papst – er ist übrigens eine Kunstfigur, der historische Silvester IV. lebte im 12. Jahrhundert und war Gegenpapst – in seinem Amt der Inbegriff des Vaters, ist nicht perfekt: „Und wieder musste Papst Silvester IV. daran denken, wie wenig er doch das Leben gemeistert hatte, wie armselig er der eigenen Ohnmacht gegenüberstand.“
Und doch ist er es, der Loredana hilft, den Schmerz über den verlorenen Vater einmal zuzulassen, der ihr davon erzählt, dass manche Fragen unbeantwortet bleiben müssen: „Heute glaube ich nicht mehr, dass unser Leben eine Frage des Willens ist. Fast achtzig Jahre musste ich werden, um das zu begreifen. Ich habe gelernt, dass ich niemandem helfen kann, niemanden trösten und niemandem die Tränen abtrocknen. Ich habe begriffen, dass Liebe und Verzweiflung Dinge sind, wofür weder Menschen noch Religionen auf dieser Welt eine Erklärung haben. Ich habe begriffen, dass man den Schmerz und die Liebe nicht erklären kann. Sie sind Bruder und Schwester, und sie kommen vielleicht aus ein und derselben unerforschlichen Dunkelheit. Aber erklären kann man sie nicht. Man muss sie aushalten lernen. Aushalten, ohne daran zu zerbrechen. Das ist schon viel. Sehr viel.“
Er erzählt von Verlust, von nicht erfüllter Hoffnung, die sich zu Schmerz wandelt, über die Erkenntnis, dass Wunder nicht einfach geschehen, sondern aus einem selbst kommen, denn Menschen sind in jeder Lage und Situation zu Hoffnung fähig und brauchen diese zum Überleben. Er selbst erkennt im Gespräch mit Loredana und seinen Erinnerungen aber auch die eigene Ratlosigkeit: „‚Ja‘, flüsterte er, ‚es ist nicht eine Frage des Willens. Es ist nicht einmal eine Frage des Wassers. Und ihr da draußen glaubt, dass der Papst es wissen müsste. Er ist genauso ratlos wie ihr…‘

Neben all der Tragik weist „Der Papst und das Mädchen“ auch Komik auf. So die Beschreibung der Lehrerin Joan Corradi, deren Leben von Schicksalsschlägen geprägt ist. Schneider gelingt es aber mit feiner Ironie, den Witz herauszuarbeiten. Man sieht die Lehrerin und die rauchenden Kinderköpfe während ihres Vortrags über den Petersdom förmlich vor sich. Schade, dass die Illustratorin nicht auch dieses Motiv gewählt hat. Es ist ein zu schönes Bild! Komisch sind auch die Schlussfolgerungen der Kinder, wie Loredanas Deduktion über die ihr im Petersdom begegnenden Priester. Eingedenk der Erläuterungen Hasenrosas kombiniert Loredana beim Anblick der schwarzgekleideten Männer im Petersdom, „dass es sich um Priester handeln musste, also um Leute ‚vom anderen Ufer‘, vor denen die Hasenrosa gewarnt hatte. Am anderen Ufer des Tibers wohnen bekanntlich die stinkreichen Römer. Also waren das die Männer, die den Leuten die Butter stahlen. Jetzt hieß es auf der Hut sein und mit keinem reden und sich auf nichts einlassen, sondern weitergehen.“
Im dritten Abschnitt kommt der im Klappentext angesprochene Optimismus zum Zuge. Loredana hat in Nilo, dem neuen Freund der Mutter, einen Vater gefunden. Er ist ein Vater, der sie respektiert, doch selbst ebenso erwartet, respektiert zu werden. Am wichtigsten für Loredana ist jedoch die Erfahrung, dass Nilo ein Vater ist, der weder sich noch das Kind aufgibt, der wieder zu ihr zurückkommt: „‚Loredana, ich lasse mich nicht hinreißen, dir auch nur mit einem einzigen Wort wehzutun. Aber meine Freiheit werde ich verteidigen.‘ Und er verließ die Wohnung. Der Abend war gelaufen. Nilo kehrte etwa nach zwei Stunden wieder zurück. (…) Er verfügte sich umgehend ins Kinderzimmer. Dort fand er eine Loredana vor, die mit verweintem Gesicht im Bett lag. Wortlos setzte sich Nilo auf die Bettkante und fing an, dem Kind den Nacken zu kraulen.“

In der Vergangenheit war Robert Schneiders Sprache in die Negativkritik geraten. Im vorliegenden Text fällt auf, dass Schneider die Kindergespräche in einem Duktus wiedergibt, der gut getroffen ist. Sowohl Themen als auch Ausdruck könnten von wirklichen Kindern stammen. In Schneiders Text kann sich der Leser die Mädchen und Jungen bildlich vergegenwärtigen, wie sie über die Väter parlieren und ihre Sicht der Welt wiedergeben. Diese Möglichkeit des Bildes vor dem geistigen Auge macht den Reiz des Textes aus, dessen Stil anfangs spritzig und witzig, gegen Ende hin dann eher traurig ist.
Sprechen wir von Bildern, so darf die Illustratorin des Bändchens nicht vergessen werden. Der Grafikerin und Illustratorin Helga Genser sind Darstellungen gelungen, die dem Text selbst nichts nehmen, sich nicht in ihn einmischen, selbst dann wenn sie Erzählsituationen wiedergeben. Die Figuren haben eine freche Leichtigkeit im Gesamtausdruck, und doch kann dies nicht über die ernsthaften Situationen im Text hinwegtäuschen. Es gibt eine Abbildung Loredanas, die sie selbstvergessen und glücklich zeigt. Man wünscht ihr, dass ihr weiteres Leben genau so verlaufen soll.

Robert Schneider Der Papst und das Mädchen
Novelle.
Mit Illustrationen von Helga Genser.
Leipzig: Reclam, 2001.
142 S.; geb.
ISBN 3-379-00781-1.

Rezension vom 02.01.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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