#Prosa

Der Nibelungen Untergang

Heinrich Steinfest

// Rezension von Bernhard Oberreither

Über die Aktualität mittelalterlicher Dichtung lässt sich ausführlich diskutieren: An sogenannten überzeitlichen Themen gibt es ja keinen Mangel. Dass hingegen Literatur, ob mittelalterlich oder nicht, für politische Ränke herangezogen wird, mit Blick auf ein zu formendes Nationalgefühl etwa, ist immer ein Gewaltakt (und keine Seltenheit). Die in Punkto nationaler Identität notorischen Texte taugen meist nur dann zu solchen, wenn man sie mit zwei fest zugedrückten Augen liest. („Reinen Quatsch“ hat etwa Kurt Vonnegut einmal die amerikanische Nationalhymne genannt, „mit Fragezeichen gesprenkeltes Kauderwelsch“).

So ist das auch beim Nibelungenlied (womit über dessen ästhetische Qualitäten gerade nichts gesagt ist): Ende des 18. Jahrhunderts wurde es als „teutsche Ilias“ begrüßt und war bald das germanische Nationalepos schlechthin – trotz denkbar schlechter Eignung: Von platten Identifikationsfiguren und sauberen Idealen weit und breit keine Spur, keine Heldentat, die nicht korrumpiert wäre, kein Abenteuer, aus dem irgendwer mit einer weißen Weste zurückkommen würde. Der zweifelhaften politischen Karriere von Schlagwörtern wie der ‚Nibelungentreue‘ geht schon ein konsequentes misreading voraus.

Jetzt hat sich Heinrich Steinfest des Nibelungenlieds angenommen – und zwar gerade in Hinblick auf dessen politische Vorbildwirkung; weil es vielleicht nicht gerade unsere Ideale, sehr wohl aber unsere Realität abbildet. Steinfest zeigt sich in seiner Lektüre überraschend zurückhaltend, ja fast bescheiden: Er krempelt nichts um, dichtet nicht neu und baut kein zeitgemäßes Setting um die ewigen Themen. Stattdessen erzählt er nach, und leistet sich nur zwei Freiheiten dabei. Die kleinere von beiden ist ein alternativer Titel: „daz ist der Nibelunge liet“, so endet der Text in manchen Fassungen, und daraus leitet sich dann der übliche Titel ab; andere Fassungen enden mit „daz ist der Nibelunge nôt“, was eben so viel heißt wie: der Nibelungen Untergang.

Was Steinfest seiner Nacherzählung darüber hinaus angedeihen lässt, ist ein Kommentar. Die lange Reihe von Ereignissen versieht er mit ausführlichen Reflexionen und Exkursen (hat er doch 2010 den Doderer-Preis erhalten, und hält sich immer noch dran), und zwar mit solchen, die deutlich auf die Heutigkeit des Kommentators schließen lassen und darauf, dass ihm nicht gefällt, was er da liest, weil es ihm so bekannt vorkommt; über weite Strecken kann man ihn sich nur kopfschüttelnd vorstellen.

Seine Sympathien sind recht deutlich verteilt: Sie liegen bei Brünhild, beispielsweise, der „Kampfmaschine aus der Vogue“, der dann bekanntlich übel mitgespielt wird, oder beim Drachen, für dessen Ende dem Erzähler Fritz Langs Filmfassung noch am glaubwürdigsten vorkommt: ein armer Wurm, vom Helden durch den Wald gejagt. Dass außerdem niemand wirklich gesehen haben kann, wie Siegfried den Drachen besiegt, weil einfach niemand sonst dabei war, gibt ihm auch zu denken: „Die ganze Geschichte kann Wahrheit sein oder reine Propaganda.“ Derart legt Steinfest seinen Finger auch auf die kleinen Widersprüche und Inkohärenzen des Epos; durch diesen Einsatz von gesundem Menschenverstand am unüblichen Ort rückt das Lied natürlich in eine gewisse Distanz.

Die stellenweise aber vom Autor durchbrochen wird, der sich nämlich auch restlos betroffen zeigen kann: vom Schicksal Brünhilds beispielsweise, oder von der an Böswilligkeit grenzenden Naivität Kriemhilds, wenig später von ihrer Trauer. Angenehme Brüche zeigen sich in der Position des Kommentators auch dann, wenn dieser unerwartet und anachronistischerweise behauptet, Augenzeuge gewesen zu sein: „Manche behaupten später“ – so der Verweis auf die Überlieferung, und dann: „… doch was ich sah“ – so die Behauptung des vermeintlichen Zeugen. Damit gönnt Steinfests Erzähler der Geschichte (vielleicht zu selten) einen kleinen aufrührerischen Kunstgriff. Ein Eskimo-Eispapierl direkt neben der Quelle, an der Siegfried sein bekanntes Ende findet, ist wohl auch ein Hinweis auf die reale Anwesenheit dessen, der da seinen Senf dazu gibt.

Aus der ansonsten üblichen Distanz findet dieser für die damaligen Untaten fast allzu leicht heutige Entsprechungen – Brautkleid bleibt Brautkleid, und Blutbad bleibt Blutbad: Wenn etwa Hagen gerade einen feindlichen Angriff erfindet, um Siegfried dem bekannten Ende zuzuführen, erkennt der Erzähler darin „eine Idee (…), die auf diesem Planeten noch so richtig in Mode kommen wird“. Aus dieser überhistorischen Perspektive erscheint das Gemetzel kaum weniger schlimm, dazu aber auch ziemlich erbärmlich, auch das nicht unbedingt ein Differenzkriterium zum Heute. Insgesamt mögen vielleicht manche von Steinfests Einwänden recht naheliegend erscheinen, seiner Conclusio kann man aber kaum widersprechen: „Vom heutigen Standpunkt eigentlich indiskutabel, kommt aber immer noch vor.“

(Begleitet wird der Band übrigens von einem ‚Storyboard‘ des Werbers und Grafikers Robert de Rijn, der unter Aufwendung wahrscheinlich sehr vieler Rötelstifte – gemessen an der exzessiven Schraffur – etwas gar konventionell geratene Bildchen beisteuert, die sich jedoch nur auf dem unbeschriebenen unteren Drittel der Buchseiten befinden und somit ohne Verlust abgetrennt werden können.)

Der Nibelungen Untergang.
Mit einem Storyboard von Robert de Rijn.
Stuttgart: Reclam Verlag, 2014.
120 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 60 Illustrationen.
ISBN 978-3-15-010949-6.

Rezension vom 19.11.2014

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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