#Roman

Der Nachzügler

Hanno Millesi

// Rezension von Peter Landerl

Nach dem im letzten Jahr ausgerufenen „Jahrhundertherbst der österreichischen Literatur“ ist dieses Jahr Selbstreflexion angesagt. Eben hat Gustav Ernst die köstliche Literaturbetriebssatire „Helden der Liebe, Helden der Kunst“ publiziert, nun nimmt sich auch Hanno Millesi dieses Themas an. In seinem neuen Buch Der Nachzügler präsentiert er dem Leser einen avantgardistischen Autor.

„Ich bin ein experimenteller Schriftsteller. Diese leicht antiseptisch klingende Bezeichnung hat sich die Gesellschaft für Menschen mit meiner Perspektive ausgedacht.“ Millesis namenloser Ich-Erzähler zählt nicht zu den Erfolgreichen seiner recht brotlosen Zunft, deshalb ist er auf Nebenerwerb angewiesen. „Zum anderen ist mir klar geworden, dass es nahezu unmöglich ist, von den Erträgen experimenteller Literatur zu leben. Stipendien stellen meine Haupteinnahmequelle dar. Gelegentlich kommt ein Preis hinzu. Mit dem Preis wird die herausragende Qualität einer meiner Arbeiten belohnt oder die Tapferkeit, derartige Lebens- und Arbeitsbedingungen über mich ergehen zu lassen. Um meinen Lebensunterhalt zu sichern, bin ich gezwungen, dazuzuverdienen. Einzig und allein deshalb übernehme ich Aufträge wie diesen.“

Der „Schriftsteller ohne Publikum“, wie er über sich sagt, arbeitet gelegentlich als „semiprofessioneller Verfolger“ für ein Detektivbüro. Seine Aufgabe besteht darin, Personen zu beschatten. Präzise und gewissenhaft wie in seinen literarischen Arbeiten folgt er den Zielpersonen und dokumentiert seine Tätigkeit in schriftlichen Berichten für seine Agentur.
Seinem neuen Zielobjekt, Herrn X, einem Informatiker, der für das Landwirtschaftsministerium arbeitet, kann er keine Sympathie entgegenbringen: „Gewöhnlich tut mir der Kerl, auf den sie es abgesehen haben, irgendwie Leid. Herrn X gegenüber empfinde ich jedoch nicht das Geringste. Nichts stimmt auch wieder nicht. Etwas Dämonisches geht von ihm aus. Nichts Attraktives, sondern eher etwas dämonisch Mittelmäßiges, eine unauffällige, unterschwellige Gemeinheit; außerdem eine Gefährlichkeit.“

Während der ennuyierenden Wartezeiten, die seine detektivische Tätigkeit zwangsläufig nach sich zieht, kreisen seine Gedanken um sein Selbstverständnis als avantgardistischer Schriftsteller: „Eine gewisse Brisanz kommt dem Einmotten der Avantgarde insofern zu, als der Avantgardist das Neue schlechthin personifiziert, während er als Persönlichkeit in gewisser Weise der Vergangenheit angehört.“ Ein Nachzügler also. Er beklagt sich verbittert darüber, dass experimentelle Literatur praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, darüber, dass der Staat zwar fördert, aber nur, weil er am „symbolischen Kapital“ der Avantgardisten interessiert ist. Er beklagt sich über die Enge des Literaturbetriebs, über ignorante Verleger und machtgeile Kollegen.

Herr X indessen legt im Laufe der Nachstellungen ein immer bizarreres Verhalten an den Tag, er säuft und isoliert sich zunehmend, geht nicht mehr zur Arbeit und lässt sich schließlich in die Psychiatrie einweisen: „Das letzte Bild, das ich von Herrn X im Gedächtnis behalte – er selbst im Gespräch mit dem Pförtner des Sanatoriums, einer Art Zöllner an der Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn –, nimmt, während ich nach Hause fahre, die verschwommene Ausdruckskraft eines spätimpressionistischen Gemäldes an.“

Doch nicht lange bleibt X in der Psychiatrie. Als er entlassen wird, erhält der Schriftsteller den Auftrag, ihn weiter zu verfolgen. Als X ihm mit dem Fahrrad entwischt, gibt er auf und lässt ihn ziehen. So wie der Kater das Mausen nicht lassen kann, wäre Millesis Erzähler kein wahrer Schriftsteller, hätte ihn der Verfall von Herrn X nicht auf die Idee für einen neuen Text gebracht. Damit aber nicht genug der Intertextualität: Herr X ist kein anderer als der Protagonist von Michel Houellebecqs Bestseller „Die Ausweitung der Kampfzone“. Geschickt stellt Millesi in seiner Darstellung der Houellebecqschen Hauptfigur in Frage, was Hunderttausende Leser an dieser langweiligen, asozialen, zynischen Type gefunden haben und konterkariert mit Witz und Verstand Houellebecqs Erfolgsmodell.

Millesi hat darüber hinaus die Reflexionen seines Schriftstellers mit den Thesen von Pierre Bourdieus literatursoziologischem Klassiker „Die Regeln der Kunst“ gefüttert, in dem dieser auf wissenschaftlich präzise, dabei aber sehr anschauliche und vor allem nachvollziehbare Art die Wirkungsweise des literarischen Feldes beschreibt. Das Resultat: Eine geistreiche und schelmische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit avantgardistischen Schreibens, eine lockere, unaufdringliche Parabel über das Künstlerdasein, die anregt und unterhält.

Hanno Millesi Der Nachzügler
Roman.
Wien: Luftschacht, 2008.
203 S.; geb.
ISBN 978-3-902373-34-2.

Rezension vom 12.11.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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