#Lyrik

Der Mensch

Georg Paulmichl

// Rezension von Martin Reiterer

„Der Mensch entstammt der Wiege. / Zwischendurch lebt der Mensch in der Arbeit. / (…) In der Not trinkt der Mensch aus dem Strohhalm. / Mit der Bahre sagt der Mensch dem Ableben adieu. / Nach dem Sterben kommt der Tod.“

Lakonische Sätze produziert Georg Paulmichl wie am laufenden Band. In seinen Gedichten und Texten kommen sie in Reih und Glied daher. Mit Gemach wiewohl, denn die Hektik der Nebensätze liegt dem Autor wenig. Eine trockene Präzision und Spruchreife kennzeichnen seine Sätze, bisweilen bestechen sie durch einen Anschein des Tautologischen.

 

Der Autor und Künstler Paulmichl, 1960 in Schlanders (Südtirol) geboren, geht, von seinem „Sekretär“ und „Lektor“ Dietmar Raffeiner betreut, in der Behindertenwerkstatt in Prad seinem Doppelberuf nach. Er hat sich im Lauf des letzten Jahrzehnts ein beträchtliches Publikum im deutschsprachigen Raum erobert – und weiß davon: „Ich bin ein einmaliges Ereignis für die deutsche Bildungslandschaft. Schon seit Jahren übe ich mich in der Pinselführung und in den Wortsprüchen. Ich bin ein Lesevergnügen im höchsten Grad.“

Auf diesen Umstand reagiert auch die letzte Publikation des Autors mit dem Titel Der Mensch, bei der es sich um eine entsprechend gestaltete Liebhabermappe handelt. In losen Blättern (Größe A4) sind hier neun Gedichte und ein Neujahrs-Brief abgedruckt, die sich – mit einer Ausnahme, dem Gedicht mit dem Titel „Häuser“ – bereits in den zuvor erschienenen Büchern finden. Drei davon, allesamt mehrfach aufgelegt, sind heute zugänglich: „Verkürzte Landschaft“ (1990), „Ins Leben gestemmt“ (1994) und „Vom Augenmaß überwältigt“ (2001); siehe auch: www.georgpaulmichl.com. Die Texte des ersten Buchs, 1987 herausgekommen und bald darauf vergriffen, wurden großteils in den Band „Verkürzte Landschaft“ aufgenommen. Neben Gedichten und Märchen gibt es seit dem letzten Buch auch Briefe und Glossen zu lesen.

Paulmichls Bücher zeichnen sich daneben auch durch seine Bilder aus, vier davon sind in dem neuen Schuber enthalten. Die Auswahl dieser abstrakten „Kalligrafien“, wie sich drei der Bilder im Titel bezeichnen, stellen eine hübsche Ergänzung zur graphischen Gestaltung der Textblätter dar. Diese selbst machen, indem sie jeweils eine Zeile aus den Gedichten herauslösen und gleichsam als Motto voranstellen, ein sehr elementares ästhetisches Moment der Texte Paulmichls anschaulich. Gemeint ist ihre Eignung und Neigung zum Aphoristischen. Man kann die Sätze aus ihrer Ordnung herausholen, aus der Reihe zitieren und sie werden in vielen Fällen je für sich ihre Denkwürdigkeit erweisen, ihr Wortwitz ist inbegriffen.

Auch auf der thematischen Ebene, die sich, wie es der Titel bereits nahe legt, um das Stichwort „Mensch“ rankt, macht diese Edition ein bezeichnendes ästhetisches Prinzip sichtbar. Bereits die Gedichttitel „Der Mensch“, „Kinder“, „Lehrer“, „Häuser“, „Krankenhaus“, „Frauen“, „Hochzeit“, „Deutschland“, „Tod“ deuten eine enzyklopädische Intention an, die es auf die Erfassung der gesamten Welt und Umwelt nach bestimmten Mustern und Regeln abgesehen zu haben scheint. (Das Gedicht mit dem Titel „Deutschland“ fällt hier allerdings etwas aus dem Rahmen; es scheint eher ein Tribut an das deutsche Leserpublikum zu sein als an die Verdeutlichung dieses ästhetischen Prinzips.) Die Absicht der Weltbeschreibung braucht gar nicht die subjektive Absicht des Autors zu sein, sie ist aber objektiv in seinen Texten auffindbar. Das hat mit dem wesentlichen Umstand zu tun, dass Paulmichls Ausgangspunkt für seine Texte das Vorgefundene ist.
Dazu ist zum einen das sprachlich Vorgefertigte zu rechnen: der Fundus Alltagssprache und Alltagsweisheit, eine Fülle von verkürzten, auch verdrehten Wahrheiten, halbierten Tatsachen, glattpolierten Klischees und von Inhalten bereinigten Floskeln. Zum anderen schließt das Vorgefundene aber auch vorgefertigte Konzepte mit ein, die nicht unmittelbar im Sprachlichen impliziert sind, Weltbilder und Weltanschauungen, Denkweisen und Wahrnehmungsformen.

In seinen Texten spiegelt sich, wenngleich gebrochen, verzerrt, entlarvt, dieser Hintergrund. Kennzeichnend dafür ist Paulmichls stark regionale Prägung, die keineswegs als lokal begrenzte zu betrachten ist sowie seine mediale Prägung durch Fernsehen und Zeitungen. Das Spannende allerdings ist zweifellos, wie Paulmichl mit diesem vorgefundenen Material verfährt, wie er sich seiner bedient und annimmt. Denn auf diesem Material steht gleichsam die Aufschrift: „Zur freien Entnahme und Verarbeitung“, eine Mitteilung, die der Autor aufs innigste beherzigt. Auf der einen Seite beinhaltet sie das Sammlerische – registrieren und beobachten -, auf der anderen Seite die Verwertung – sortieren, ordnen, kombinieren. Im Hinblick auf eine seiner Hauptquellen der Inspiration, die Zeitung, heißt es in einem Gedicht: „Im Zeitungswirrwarr liegt die Wahrheit.“ Im Wirrwarr des Vorgefundenen liegt die Wahrheit begraben oder auf der Hand, die seine Texte daraus beziehen. Verlässt sich Paulmichl also im Allgemeinen auf den Fundus, so beginnt hier die Kunst des Findens, des (Heraus)Lesens, eine Kunst der Exegese, die sich mit seiner Kunst des Zusammenfügens, der Kombination, der Montage, der Verkürzung trifft. Und darin zeigt sich der Autor als ein wahrer Meister des Sprachhandwerks. Er legt bloß, indem er wörtlich nimmt, er deckt auf, indem er gegen den Strich kehrt. Wo das Röntgenbild des Alltags nichts mehr erkennen lässt, durchleuchtet er unsere Sprache, indem er gegen die Grammatik verstößt, und bewirkt so auf homöopathischem Weg eine Befreiung aus einem festgefahrenen Floskelalltag.

Für seine Fertigkeiten des Kombinierens lassen sich Beispiele auf der Wort- und Ausdrucksebene bis hin zur Satz- und Textebene finden. In den Texten der vorliegenden Ausgabe ist etwa die Rede vom „Geburtsnachweis“, der in der Wiege „beginnt“, vom „Kauvergnügen“ der Menschen, zu dem sie sich in die Wohnanlagen „verkriechen“, von der „höfliche[n] Niedertracht“ der Lehrerinnen, davon dass die Männer „von rauher Sitte“ sind, und man findet Aussagen wie diese: „Ohne Frauen liegt der Nachwuchs brach“ oder „Der Tod treibt das Leben vor sich her.“ Seiner Selbsterfindung durch die Sprache (und Kunst) ist sich der Autor jedenfalls bewusst: „Ich habe Glück gehabt, daß es mich gibt. Die Götter haben mich nicht erfunden, ich bin selber in der Weltlage erschienen.“ Doch „genug mit der Wortversendung!“
Paulmichls Bücher und Texte sind im guten Buchhandel käuflich zu erwerben.

Georg Paulmichl Der Mensch
Gedichte und Brief.
Innsbruck: Haymon, 2003.
21 S.; brosch.; m. Abb.
ISBN 3-852-184-18-5.

Rezension vom 16.06.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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