Nicht ganz verständlich ist auch, wie in einem derart aufwändig gestalteten Prachtband zum 70. Jahrestag des European Recovery Program ERP, produziert im Auftrag der österreichischen Marshallplan Stiftung und des ERP Fonds, kryptische Sätze stehen bleiben konnten wie: „Zum Zeitpunkt der Gründung von UNRRA im Jahr 19 [!] war noch nicht klar, ob Österreich als befreites Land würde gelten können. Ende August 195 [!] entschied dann die UNRRA-Generalversammlung in London, dass Österreich als befreites Land anzusehen sei und daher Anspruch auf UNRRA-Lieferungen habe.“ (S. 55)
Auch dass sich die Texte der zehn Kapitel immer wieder in Textschleifen und umständlichen Wiederholungen verirren, macht eine Lektüre nicht ganz einfach. Lohnend ist sie dennoch, und zwar vor allem aus zwei Gründen. Die Autoren zeichnen die Funktionsweise des ERP sorgfältig nach und zwar bis in die allerjüngste Gegenwart. Damals lieferte die USA Güter – zunächst Lebensmittel, dann vor allem Investitionsgüter für Aufbau und Rationalisierung der Industrie – ohne Verrechnung. In Österreich wurden sie zu Schillingpreisen verkauft, die Erlöse sogenannten „Counterpart“-Konten bei Staatsbanken gutgeschrieben und in der Folge als zinsgünstige Kredite an heimische Unternehmen verliehen. Bis 1961 hatte die USA die Oberhand über die Verwendung dieser ERP-Mittel, das bekannteste Prestigeprojekt war zweifellos Kaprun. Einfluss nahm die USA nicht nur auf die Vergabe der Kredite, mit einer Verweigerung der Freigabe der ERP-Mittel erreichte es die USA auch, dass die unwillige österreichische Regierung die Verzögerungstaktik bei den Rückstellungsverfahren an die jüdischen Opfer aufgeben musste. (S. 233) „Die Last der Vergangenheit weigerte sich, zu verschwinden.“ (S. 233) So lautet etwas lapidar der Kommentar der Autoren.
1961 wurde der ERP-Fonds im Umfang von 11,2 Milliarden Schilling an die österreichische Regierung übergeben, die seit damals über die Vergabe der günstigen Kredite an begünstigte Firmen entscheidet. Heute umfasst der Fonds drei Milliarden Euro, die Transferleistungen aus diesem Titel an die heimische Wirtschaft betrugen 2015 519 Millionen Euro (S. 277).
Der zweite interessante Punkt ist eine schlüssige Erklärung für das Phänomen des hermetischen „Einheits-Optimismus“, das Wolfgang Kos 1994 beschrieben hat; es habe „in diesem permanent mit ideologisierten Idealbildern und pädagogischen Anfeuerungen operierenden Kommunikationssystem kaum Ritzen“ gegeben, „durch die unreglementierte Aussagen und mehrdeutige Bildinformationen zu den Menschen vordringen konnten.“ Fünf Prozent der Counterpart-Mittel waren der PR vorbehalten und so wurde die Marshallplan-Publicity „die größte internationale Propagandaveranstaltung, die man je in Friedenszeiten gesehen hat“ (S. 190). „Die verschiedenen Abteilungen des amerikanischen Informationsdienstes in Österreich (ISB) begleiteten medial die ERP-Lieferungen und propagierten landauf landab über Radio, Presse, Film und Fotografie, vor allem aber auf volkstümlichen Veranstaltung, in Ausstellungen, auf Messen, Volksfesten und Kirtagen die Botschaft und die Politik des Marshallplans.“ (S. 188) Ein Propaganda Zug wurde quer durch Österreich geschickt und über jede seiner Stationen ausführlich berichtet, in den Schulen gab es Zeichenwettbewerbe zum Thema Marshallplan, und der ISB sorgte für die Lancierung der Berichterstattung in den Medien und legte reich bebilderte „Informationsbroschüren“ auf. Wie flächendeckend damit das Narrativ der Wiederaufbaueuphorie bedient wurde, macht das reichlich beigegebene Bildmaterial anschaulich sichtbar.