Wie innerhalb von fünf Tagen eine ganze persönliche Welt in sich zusammenstürzen kann, weil der Protagonist seine Situation vollkommen falsch eingeschätzt hat, führt Klingl in ihrem ersten Roman gleichsam am Rande vor. Denn eigentlich geht es um ganz etwas anderes, nämlich um einem kritischen Blick auf die österreichische Mittelstandsgesellschaft der Gegenwart.
Dr. Karl Schmied, Redakteur beim fiktiven österreichischen Boulevardblatt „Die Zeitung“ hat noch drei Jahre bis zur Pension. Äußerlich hat er sich eingerichtet in seinem Leben, sonnt sich in vermeintlich bescheidener Selbstgefälligkeit. Doch die Tatsache, dass er frisch verliebt in Sonja, eine deutlich jüngere Frau aus Moldawien ist, lässt ihn immerhin merklich aufleben. Er begreift sich als für seine 62 Jahre vergleichsweise lässig und dabei gesellschaftlich fortschrittlich, ohne eine gewisse wohlmeinend-konservative Grundhaltung aufgegeben zu haben. Er stammt aus kleinen Verhältnissen und ist der klassische Aufsteiger der Nachkriegszeit mit ihrem sozialen Klima, welches für einige Jahrzehnte auch den weniger Privilegierten Zugang zu Bildung und gesellschaftlichem Anschluss verhilft. Er hat Geschichte studiert, promoviert und eine vielleicht nicht glanzvoll, aber solide zu nennende Karriere als Journalist gemacht. Längst finanziell in der oberen Mitte der Gesellschaft angekommen, fällt es ihm zunehmend schwer, mit den Entwicklungen des Zeitgeschehens und den Umwälzungen durch Digitalisierung, Einwanderung, politische Krisen und den Niedergang des Pressewesens Schritt zu halten. Er versucht, im Mainstream mitzuschwimmen, doch er sieht insgesamt eine düstere Zukunft von Welt und Gesellschaft voraus. Seine Antagonistin ist die mehrfach erwähnte „Besserwisserin“, eine namentlich nicht genannte Kollegin bei der Konkurrenz, die eine deutlich gefestigtere Haltung zu haben scheint und der sich Schmied diskursiv unterlegen fühlt. Hinter dieser Figur verbirgt sich ganz deutlich die Autorin Livia Klingl selbst.
Schmied räsoniert ständig vor sich hin, und die Leserschaft wird Zeuge eines sehr interessanten Monologes, der sich um all die Verwerfungen der Jetztzeit dreht und selbst aktuelle Entwicklungen wie eine Kanzlerschaft von Sebastian Kurz einschließt, den Schmied als den „Jungmann, der jetzt der Retter von unserem kleinen Österreich sein soll“ bezeichnet. In diesem Selbstgespräch paaren sich von Schmied postulierte relativ moderate politische Grundansichten mit nicht zu übersehenden eher rückwärts gewandten Aussagen über Frauen, Geflüchtete, Technik und Sprache, von denen sich nicht wenige unter dem altbekannten Label „Ich bin ja nun wirklich kein Nazi, aber…“ subsumieren ließen. Livia Klingl geht dabei in der Darstellung der Figur des Dr. Karl Schmied nie soweit, dass man sie in Bausch und Bogen ablehnen würde. Insofern trifft der Vergleich mit Qualtingers Herrn Karl, den der Klappentext bemüht, nicht hundertprozentig. Schmied ist ein Unsympath auf Raten, und viele seiner nur oberflächlich reflektierten Aussagen zu Problemen der Zeit sind von den Ansichten auch einer Mehrheit der zu erwartenden Leserschaft gar nicht so weit entfernt. Man fragt sich andauernd, wie viel von dem gerade gelesenen protofaschistischen Potenzial in einem selbst steckt. Der Sprachduktus des Protagonisten ist eine Art lockerer Plauderton, in dem die Fragwürdigkeiten mancher Aussagen charmant verbrämt werden. Nicht zuletzt durch ihre Arbeit als Zeitungsprofi weiß Livia Klingl natürlich, wie man so etwas bewerkstelligt. Auf Schritt und tritt wird man mit Wendungen wie diesen gefüttert: „Ob sie so schön bleibt, meine Wienerstadt? Wer weiß! Wenn ich über solche Sachen nachdenke, bin ich eigentlich sehr froh, dass ich schon 62 bin. In meiner Lebenszeit können die Politiker nicht alles ruinieren, was wir uns aufgebaut haben. Und selbst wenn später einmal die Österreicher, also die echten Österreicher, in der Minderzahl sein sollten: mich muss das nicht mehr kümmern. Ich schau mir dann schon die Erdäpfel von unten an.“ Und so wird aus dem vertraulich beiseite Gesprochenen bei der Leserschaft eine sich allmählich aufbauende Anti-Haltung gegen den Protagonisten erzeugt. Das Pseudo-Authentische dieser Lebensbeichte en passant eignet sich, gespickt mit zahllosen Ausrufungszeichen, gut dafür, der Leserschaft immer wieder den Spiegel vorzuhalten.
Gleichzeitig macht sich Dr. Karl Schmied gehörig etwas vor: längst ist er in der Redaktion auf dem absteigenden Ast, als ehemaliger Chef der Außenpolitik inzwischen zur Online-Truppe verbannt, wo es nur mehr um „Click-Dreck“, also billigste Emotionen ansprechende Schlagzeilen-Unkultur geht; die vermeintliche Liebe seiner neuen Freundin fußt, wie sich im Laufe der Handlung herausstellt, auf einem fundamentalen Missverständnis. Und auch mit dem Einfluss, den er auf seine Leserschaft zu haben glaubt, ist es nicht so weit her, da die Richtung der Berichterstattung von anderer Seite vorgegeben wird: „Kaum war das mit der Willkommenskultur vorbei, haben uns die Fotoagenturen nur noch diese Männer in Hundertschaften serviert. Und die haben wir natürlich abgedruckt, wie alle anderen auch. Bemerkt hat das auch in der Redaktion kein Mensch, wie sich plötzlich, wie durch ein Wunder, die Sujets verändert haben und damit auch die Botschaft. Schaut her, lauter Männer, stimmt ja gar nicht, dass da nur Familien kommen! Da könnte man wirklich Verschwörungstheoretiker werden und an irgendeine übergeordnete Macht glauben, die die Emotionen beeinflusst und alles orchestriert…“ Man könnte, man müsste, eigentlich sollte man – es bleibt bei Schmied wie bei der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung beim Vorsatz. Zu bequem ist es, den eigenen Wohlstand zu genießen und die eigentlichen Machtstrukturen unhinterfragt zu lassen. Und wenn es tatsächlich zu Realeinbußen kommt, noch schwächere Bevölkerungsgruppen (wie eben die Geflüchteten) dafür verantwortlich zu machen statt diejenigen zur Kasse zu bitten, die sich in allergrößtem Umfang davor drücken und damit durchkommen. Als Schmied schließlich bemerkt, wie er in der Redaktion ausgebootet wird und seine Beziehung zu Sonja für ihn völlig unerwartet in ein Desaster mündet, holt er zu einem Rachefeldzug aus, den man ihm, der „ein bisschen unauffällig [ist] und nicht so vorlaut wie die meisten Kollegen“ nicht zugetraut hätte. Das ist wirklich spannend geschrieben – und mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden.
Dem Buch hätte es insgesamt gut getan, wenn man die ausgedehnten Zeit- und Selbstbespiegelungen des Dr. Karl Schmied, die ab einem gewissen Punkt etwas redundant wirken, eingekürzt und der eigentlichen Handlung mehr Raum gegeben hätte. Durch deren durchaus überraschende Wendung hätte sich eventuell sogar die Form der Novelle eher angeboten als die des Romans. Dennoch ist Der Lügenpresser ein gelungener belletristischer Erstling, kenntnisreich im Detail, was die Presselandschaft angeht, und eine insgesamt recht schwungvolle Sittenskizze der unmittelbaren Gegenwart.