#Roman

Der Löwenruf

Hermann Gail

// Rezension von Helmuth Schönauer

Der Roman beginnt mit der Bitte eines Patienten an den „Sehr geehrten Herrn Doktor“, die zerrüttete Seelenlage des Schreibers zu beachten und das beigefügte Konvolut an Papieren durchzusehen.
Noch ehe der Roman einsetzt, sind die Rahmenbedingungen bereits abgesteckt. Der Leser übernimmt die Rolle einer Respektsperson, dem das schreibende Ich mit bürokratischer Eleganz das Schicksal zu Füßen legt.

Die Papiere erzählen von einem Gefangenen-Leben, in dem das Gefängnis auch nach der Entlassung weiter geht.
Im ersten Kapitel fahren der Erzähler und sein Freund nach der Entlassung aus der Strafanstalt nach Paris, weil dies der Ort des größten Kontrapunktes zum Gefängnis ist. Die kreative Unruhe der Stadt, die allgegenwärtige Erotik gewisser Viertel, die Freiheit, essen und trinken zu können, wie es einem gefällt, und der gepflegte Gesprächs-Umgang mit Freunden sind die Zutaten für eine Welt, in der „das Schaf beim Löwen liegt“. Viele Gespräche und Ereignisse werden mit Erlebnissen im Gefängnis verglichen, angefangene Überlegungen aus der früheren Zeit lassen sich in relaxter Stimmung endlich vervollständigen oder neu durchdenken. Die Gefängniszeit hinterläßt zwar einen bitteren Nachgeschmack, aber die beiden Paris-Flaneure achten ihr Gefängnis als einen Ort, in dem sie immerhin mit Würde und Selbstbewußtsein gearbeitet haben. So stellt sich der Beruf des Druckers als die humanste Form des Überlebens hinter Gittern dar.
Paris endet abrupt, als der Kollege abreist und wenig später in Wien stirbt.

Ein kurzes Zwischenkapitel berichtet von der Freiheit und Arbeit in einer Stempelfabrik. Die Stadt scheint wie ein Film mit einer falschen Geschwindigkeit neben dem Beobachter abzulaufen, und so nimmt es nicht Wunder, daß der Erzähler „nur zur Beobachtung“ in eine Anstalt eingeliefert wird.

Im dritten Teil schließlich wiederholt sich die Welt des Gefängnisses wie in einem schlechten Traum. Zwischen Psychiatrie, geriatrischer Abteilung und aktiver Justizanstalt sind die Grenzen fließend. Der Erzähler geht noch einmal die Stationen seines Lebens durch und stößt angewidert auf immer skurrilere Modernisierungen, die den Strafvollzug aber umso unmenschlicher machen. Eine perfekte Justiz endet schließlich immer mit der Niederlage des Gefangenen.
„Bleibt abtrünnig, bleibt allein. Bald wird der Morgen anbrechen und das Flimmern der Sonne wird euch sanft berühren. Euch soll vergeben werden – “ (S. 339), lautet die Schlußbotschaft.

Hermann Gail beschreibt im Löwenruf einen einzigartigen Kosmos des Gefängnisses. Es steht nie zur Debatte, was eigentlich zur Einlieferung des Erzählers ins Gefängnis geführt hat, denn mit der staunenden Demut eines Josef K. nimmt der Held den Strafvollzug auf sich.
Der Leser erfährt viel über die irreale Welt der Justiz; phasenweise hat man den Eindruck, daß die Gefangenen wohl isoliert mitten unter uns auf einem anderen Stern leben. Angetrieben werden die Aufzeichnungen immer wieder von Reflexionen über einschlägige Lektüre, wobei sich natürlich der Meister Franz Kafka als der beste, weil „kafkaeskeste“ Kenner der Jusiz erweist. Sein Roman „Der Prozeß“ sowie die Erzählung „In der Strafkolonie“ sind Vorgaben, die die österreichische Justiz mit großem Beamtenfleiß zu erfüllen versucht.

Wer einmal in die Speichen der Justiz gegriffen hat, für den ist die Welt vor und hinter den Gittern gleich strukturiert. Nur wer systematisch „abtrünnig und allein“ bleibt, kann dieser durch und durch bürokratisch gestalteten Welt widerstehen.

Hermann Gail Der Löwenruf
Roman.
Hg.: Andreas Weber.
Weitra: Bibliothek der Provinz, 1999.
339 S.; geb.
ISBN 3-85252-289-7.

Rezension vom 20.04.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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