#Roman

Der letzte Satz

Robert Seethaler

// Rezension von Eva Maria Stöckler

… denn es war Zeit, zu gehen.

„Ich reiste von Amerika herüber, und auf demselben Schiff war er, todkrank, ein Sterbender. Vorfrühling lag in der Luft, die Überfahrt ging sanft durch ein blaues, leichtwogiges Meer, ein paar Menschen hatten wir uns zusammengefunden, Busoni schenkte uns, den Freunden, von seiner Musik. Immer lockte er uns, froh zu sein, aber unten, irgendwo im Schacht des Schiffes, dämmerte er, behütet von seiner Frau (…) Tief unten lag er, ein Verlorener, verbrennend im Fieber (…).“ berichtete Stefan Zweig am 25. April 1911 in der „Neuen Freien Presse“, der wie auch der Komponist Ferruccio Busoni einer der Passagiere der „Amerika“ war, die am Ostersonntag den 16. April 1911 Cherbourg erreichte.

Gustav Mahler, bereits todkrank, reiste in der Karwoche 1911 mit diesem Schiff, begleitet von seiner Frau Alma und seiner Tochter Anna, von New York zurück nach Wien, um dort zu sterben. Almas Mutter war zur Pflege mit an Bord, wo der Kapitän des Schiffes dem Komponisten einen Teil des Sonnendecks abgrenzen ließ, sodass dieser ungesehen und ungestört von den anderen Passagieren blieb. Alma sorgte dafür, dass niemand zu ihm vordringen konnte.

Sitzend „auf einer Kiste aus Stahl, mit dem Rücken an die Wand eines Deckcontainers gelehnt“ zeichnet Robert Seethaler den Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler auf seiner letzten Überfahrt von Amerika nach Europa, während der beinahe krankhaft Lärmempfindliche „das dumpfe, gleichmäßige Hämmern der Schiffsmotoren unter sich“ spürte. Ihm zur Seite gestellt wird ein namenloser Schiffsjunge, der den Komponisten einem jugendlichen Charon gleich auf seiner letzten Überfahrt begleitet. Es sind nur wenige Worte, die der sterbende Komponist mit dem Schiffsjungen, der ihm Tee und die besorgten Nachfragen von Alma aus dem Unterdeck nach oben bringt, wechselt. Manchmal erzählt er dem „Herrn Direktor“ etwas über das Meer oder will etwas über seine Musik wissen. Dieser aber lässt mit seiner Weigerung, über Musik zu sprechen – „Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald Musik sich beschreiben lässt, ist sie schlecht.“ – Erinnerungen an die letzten Jahre aufsteigen, die sich einem Vogel gleich in die Lüfte erheben und über das Meer streichen.

Ein Vogel, „von den Einheimischen Abholer genannt, weil sie angeblich die Seelen der Gestorbenen heimbrachten“ ist es auch, der Mahlers Gedanken zurück nach Maiernigg bringt, ins Komponierhäuschen oberhalb des Wörthersees, wo er an der 9. Symphonie gearbeitet hat. Dass Beethoven oder Bruckner nach Vollendung oder während der Komposition an einer 9. Symphonie verstorben sind, lässt ihn ein nahes Ende befürchten. Es bleibt der Gesang der Vögel letzte Inspirationsquelle. „Was zählte, war der Vogelruf, sonst nichts.“

In Maiernigg verbrachte er glückliche Stunden mit seiner Tochter Maria, bevor sie im Juli 1907 an Diphterie verstarb. Danach kehrten Gustav und Alma nicht mehr nach Maiernigg zurück, sondern bezogen Sommerquartier in Toblach, einem Ort voller Freiheit und Stille, aber auch Ort der unsäglichen Affäre seiner Frau mit Walter Gropius, dem von ihm verächtlich „Baumeister“ genannten Architekten, die ihn in eine tiefe Krise stürzt. „‚Ich glaube ich hab’s‘, sagt er, ‚es ist eine Auflösung. Ein Verstummen in der Ewigkeit.'“ Die erste Begegnung mit Alma, die ihn verzehrende Liebe zu ihr, die eiskalte Hand, die er ihr zum Abschied küsst, ein Bettler, der ihm, dem gerade zur Hochzeit eilenden Komponisten sagt, er sehe nicht aus wie ein Bräutigam, all das steigt aus den Tiefen des Meeres, den Tiefen der Erinnerung wie frühe Todesboten in ihm auf.

Wiederkehrende Fieberattacken – „Jetzt verbrenne ich!“ – lassen ihn beinahe wie Phönix verbrennen, um später wie dieser wiedergeboren aus der Asche zu steigen. Beim Gedanken an seine Zeit als Direktor der Wiener Hofoper wird alles um ihn herum zu einem Symbol für den Tod: Sein Schreibtisch, ein „riesiger schwarzer Monolith“, erinnert ihn an die Familiengräber am Wiener Zentralfriedhof. Der von antisemitischen Ressentiments begleitete Abgang von der Oper – weil „ein Jud das größte deutsche Musikwerk zusammenstreicht“ (Beethovens 9. Symphonie) und „die Salome auf die Bühnen bringen muss, eine dermaßen minderartige Schweinerei“ ist Niederlage und Ausgangspunkt für die Reise in die „neue“ Welt gleichermaßen.

Einer Szene widmet Seethaler besondere Aufmerksamkeit. Der Bildhauer Auguste Rodin soll zu Mahlers 50. Geburtstag eine Büste anfertigen, was der Komponist nur widerwillig über sich ergehen lässt. Die lange Sitzung in Rodins Atelier im Hotel Biron in Paris mit seinem riesigen, einem Urwald ähnlichen beängstigenden Garten, dem scheinbar einbeinigen Mädchen, dem unbehauenen Marmorblock – „ein zerrissener Torso, verzerrte Gesichtszüge, zum Schrei geöffnete Münder“ – sie alle erscheinen als Todesboten. Die Abnahme der Büste wird zum endgültigen Abschied: „Alma, wir gehen!“

Am Ende bleiben nur mehr Bilder aus der Kindheit und der Triumph als Komponist mit der Uraufführung der 8. Symphonie in München, die jedoch bald von Fieberträumen über Alma eingeholt werden. „Er träumte, er risse große Fleischstücke aus ihrem Körper und schlucke sie unzerkaut hinunter“. Eine letzte Erinnerung an sie und die Töchter hingegen ist versöhnlich. Er sieht sie zusammen in der Badewanne: „Wie Meerestiere, ein Weibchen mit ihren beiden Jungen.“ Dann bricht er auf dem Schiff zusammen, „während weit draußen das Wasser zu brodeln begann und sich nur einen Augenblick darauf ein Schwarm Fische erhob, silbern und flirrend und so gewaltig, dass er das ganze Meer in seine Schatten zu legen schien.“

Seethaler nähert sich in diesem Text behutsam dem sterbenden Gustav Mahler, den er als schwer kranken, aber zäh um sein Leben und seine große Liebe zu seiner Frau und den beiden Töchtern ringenden Komponisten porträtiert. Dabei konzentriert er sich ganz auf die Gedanken, Erinnerungen, die weniger Résumé seines Lebens, sondern vielmehr lose aus dem Unterbewussten aufsteigende Fragmente sind, die einzelne Momente seines Lebens ausleuchten. Dabei lässt Seethaler das von Hermann Bahr als unrettbar beschriebene, von Freud vielfach untersuchte und von Schnitzler literarisch gefasste „Ich“ aus dem Bewusstseinsstrom des Komponisten aufsteigen, wo es sich mit mythologischen Figuren, Todessymbolen und der Realität auf der Schiffspassage verbindet.

Mahler ist Passagier einer Überfahrt von der „neuen“ in die „alte“ Welt, vom Leben in den Tod über den Styx, begleitet vom Schiffsjungen, seinem Charon, der ihn nach Hause, nach Wien, bringt, wo er neben seiner Tochter begraben werden möchte. Fliegende Fische tauchen aus den Untiefen des Meeres auf, in denen alles verborgen liegt, während Alma, zu der er – Orpheus gleich – sich hinwendet und sie verliert, sich mit dem Kind unter Deck befindet. Schon einmal hat man Gustav Mahler an einem Meer gesehen, sterbend als Gustav Aschenbach in Luchino Viscontis filmischer Thomas Mann Lektüre.

Seethalers Sprache ist erfüllt von Respekt und Zurückhaltung gegenüber seiner Figur. Mit den Augen des Schiffsjungen tastet er sich vor in die Gedanken des „Herrn Direktor“. Nur ein Moment ist es, in dem sich der Todkranke erhebt, und an der Reling lehnend entsteht im April 1911 eine letzte Photographie auf Deck der „Amerika“, auf die auch mit dem Cover des Buches Bezug genommen wird. „Der letzte Satz“ ist aber mehr als die Begleitung Gustav Mahlers auf seiner letzten Überfahrt und eine sehr sorgfältige Auseinandersetzung mit Biographie und Rezeption des Komponisten. Es ist das Bild eines sterbenden Künstlers, der versucht, in den letzten Tagen und Stunden sein Leben in einer „Lebens-Erzählung“ zu fassen.

Im Epilog erfährt der Begleiter, der nur diesen einen Sommer lang ein „lächerlich fein gekleideter“ Schiffsjunge war, vom Tod des Komponisten. „Er hatte ihn fast schon vergessen, und jetzt war er tot.“ Er geht zurück in seine Baracke und legt sich schlafen, übergibt sich seinen Träumen. „Spätestens am Morgen würde es aufhören zu regnen, der Tag würde bestimmt kühl und hell. Und das war gut, denn es war Zeit, zu gehen.“

Robert Seethaler Der letzte Satz
Roman.
München: Hanser, 2020.
128 S.; geb.
ISBN 978-3-446-26788-6.

Rezension vom 17.08.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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