#Biografie

Der Kuss

Otto F. Best

// Rezension von Ulrike Diethardt; Evelyne Polt-Heinzl

„Im Grunde ist Kuß ein Sammelbegriff. Er faßt in eins, was Variation zu einem kaum ermessenen Thema ist“, resumiert Otto F. Best auf Seite 247. Seine kulturgeschichtliche Biografie des Kusses macht diesen Facetten- und Variantenreichtum bewußt und kämpft mit der Material- und Aspektefülle. Gemessen an dem (hohen) Standard der bravourösen und luzid strukturierten kulturgeschichtlichen Abrisse über Treue und Untreue oder über den Generationenkonflikt Peter von Matts, können bei einer linearen Lektüre des vorliegenden Buches Aufbau und Strukturgerüst nicht ganz überzeugen. Die Fülle an Informationen und Anaylseangeboten muß man sich – vor allem in den ersten Abschnitten – vorbei an Redundanzen und Wiederholungen erlesen. Eine Straffung hätte dem Text hier insgesamt vielleicht gut getan.

 

Dennoch ist Offo F. Best mit seiner Untersuchung zur „quadrolabialen Vereinigung“ und ihren Abstufungen und Artverwandtschaften zweifellos eine beeindruckende und originelle Studie gelungen. Da der Kuß, zumindest in seiner Funktion zwischen Liebenden, in die Sphäre des Intimen gehört, war der Rückgriff auf literarische Zeugnisse als Untersuchungsmaterial naheliegend. Die Entdeckungen, die uns der Autor dabei präsentiert, sind nicht selten erstaunlich und anregend. Wir erfahren Details über den „biologischen Stammbaum“ des Kusses, seine Verwandtschaften im Tierreich (vom küssenden Maulwurf bis zu Jane Goodalls Schimpansen) ebenso wie über die Rolle der Kußritualisierung und -etikette im Prozeß der Affektmodellierung. Wir lesen vom Götterkuß und seiner üppigen metaphorischen Ausgestaltung im Pietismus, von den Unterwerfungs- und Demonstrationsfunktion von Hand-, Fuß- und Vasallenküssen oder von der Abgründigkeit der Verwandlung des Kusses als gemeinhin „vertrauensbildende Maßnahme“ in den Judaskuß.

Überraschend das späte Auftreten des romantischen Kusses Ende des 16. Jahrhunderts mit dem von Goethe geschätzten lyrischen „Küsserkönig“ Johannes Secundus (1511 – 1536), der das Kußgedicht als Genre etablierte und perfektionierte. Liebe im Spannungsfeld zwischen romantischer Entgrenzung und tändelndem Gesellschaftsspiel führt in der Literatur des Rokoko und des Sturm und Drang zu einer enormen Aufwertung des Kusses. Zahlreich sind hier die im Pfänderspiel geraubten Küsse, auch Goethes Werther zählt zu den diesbezüglichen Profiteuren. Hat er den Kuß seiner Lotte nun aber geraubt oder gestohlen? Die Grenzlinie zwischen den beiden Modi ist fein, aber definierbar, wie der Autor glaubwürdig nachweist. Als klassischer „Dichter des ersten Kusses“ wäre Jean Paul zu bezeichnen, wohingegen Kleists „Penthesilea“ für die Grenzverwischung zwischen Kuß und Biß steht – ein weites Feld, dem auch der Fall Dracula zuzurechnen ist.

Entsprechend dem Interesse der Literatur an Katastrophen sind literarische Verarbeitungen des verhängnisvollen Kusses, der im Extremfall im Liebestod mündet, besonders zahlreich: Dantes Paolo und Francesca, Romeo und Julia, Othello und Desdemona oder auch Hesses Goldmund, den der hingehauchte Kuß eines Dorfmädchens zum Wechsel von der klösterlichen zur weltlichen Karriere veranlaßt. Folgenreich ist der Kuß natürlich auch in seiner schon im alten Rom üblichen Funktion zur Besiegelung von Rechtsgeschäften wie Verlöbnissen und Heiraten.

Eine besondere Stellung nimmt der zum Leben erweckende, erlösende Kuß ein, im mehr oder minder wörtlichen (Götterkuß) oder symbolischen Sinn.
Auch der Zauberkuß darf als fester Bestandteil unserer Märchentradition von Dornröschen bis zum Froschkönig nicht fehlen, ebensowenig wie der Teufels- und Hexenkuß („in tergo“), den Goethe in einer (unterdrückten) Version der Walpurgisnacht ausführlich vorstellt.

Anregende Fragen ergeben sich auch aus den verschriftlichten Kußzeugnissen der Antike. Von den 15 Kußszenen in Homers „Odyssee“ sind 14 Freundesküsse auf Kopf und Schultern (dorthin küßte der Untergebene den Überlegenen); der einzige Kuß zwischen Mann und Frau bei Odysseus‘ Heimkehr zu Penelope ist eine äußerst unspektakuläre, nur beigefügte Erwähnung. Aristophanes kennt und beschreibt bereits den aktiven, was die Beteiligung der Akteure betrifft, symmetrischen Zugenkuß, der bei Catull und Ovid einen ersten europäischen Höhepunkt erlebt.

Eingebettet findet sich diese Fülle von Zeugnissen und Beispielfällen in umfangreiche sprachwissenschaftliche, etymologische und kulturgeschichtliche Analysen. Klassische Liebestechnikbücher wie das „Kamasutra“ werden ebenso herangezogen und ausgewertet wie die Bibel – allen voran natürlich das „Hohe Lied“ König Salomos, das mit einer leidenschaftlichen Kußaufforderung anhebt – wie Regelwerke über die Minneliebe, die Bedeutung von Freuds Oralphasen-Theorie für die Kußkultur, die Benimmbücher der fünfziger Jahre und aktuelle Studien zum Sexualverhalten. Überraschend kurz vielleicht die Spurensuche zum Musenkuß, der doch vielen der untersuchten literarischen Zeugnisse als (un)ausgesprochene Vorstellung voranging.

Otto F. Bests Reiseführer durch das Reich des Kusses ist in jedem Fall eine lohnende, wenngleich nicht ganz mühelose Lektüre. Wer dadurch angeregt wird, sich mit dem Thema weiterführend zu beschäftigen, dem wird auch die sehr schmale Literaturliste am Ende des Buches und der durchgängige Verzicht auf Zitationsnachweise einige Mühe bereiten.

Otto F. Best Der Kuss
Eine Biographie.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 1998.
400 S.; geb.
ISBN 3-10-005208-0.

Rezension vom 23.02.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.