#Roman

Der Kinderdieb

Ditha Brickwell

// Rezension von Claudia Holly

Ditha Brickwells zweiter Roman schließt historisch gleichsam dort an, wo ihr Erstling endet. Während in Angstsommer (1999) die letzten Tage und Wochen des zweiten Weltkrieges in einem kleinen österreichischen Provinznest skizziert werden, widmet sie den vorliegenden Roman der detailgenauen Beschreibung des Wien der unmittelbaren Nachkriegsjahre.

Otto, moderner Antiheld im Großstadtdschungel der 50er Jahre, streift durch die Wiener Bezirke rund um den Neubau- und Josefstädtergürtel auf der Suche nach (s)einer Identität. Die Startbedingungen für sein Erdendasein sind denkbar ungünstig. Dem starken Jahrgang 1938 zugehörig, lebt er gemeinsam mit Eltern und schwerbehindertem Bruder in einer engen Zinshauswohnung. Die Wohnverhältnisse treiben den Jungen auf die Straße, seine Welt sind die Kaffeehäuser und die Banden, die ihre Gürtelreviere eisern verteidigen. Einem etwas erwachseneren „Krieg der Knöpfe“ gleich, kämpft man hier nicht nur ums Überleben in der Bande, sondern ums Überleben im allgemeinen. Kriminelle Unternehmungen stehen auf der Tagesordnung. Dieses Halbstarkenmilieu wird zu Ottos Ersatzfamilie, die ihn seine Träume von Ali Baba, El Coyote, den Sioux und den Komantschen weiterspinnen lässt.

Eine Gegenwelt wird ihm durch die Freundschaft mit Margit, die im persönlichen Umfeld seines Bandenchefs Hüttl-Hansi verkehrt, offenbart. Die Blutsbrüderschaft zwischen Prinz Liu und Ali Baba/El Coyote vereint die exotischen Traumwelten vom fernen China und der weiten Prärie und webt einen Faden zwischen beiden Schicksalen, der bewegte Jahre überdauern soll.
Durch ein Missgeschick, durch einen Hinterhalt ist Ottos Karriere als Schieber und Bandenmitglied ein vorläufiges Ende gesetzt. Acht Monate Erziehungsanstalt Kaiser-Ebersdorf sind gefolgt von Bewährung und einer sogenannten „zweiten Chance“ als Aushilfe in einem Schweizer Kurhotel, die Otto nicht besteht. Zurück in Wien erwarten ihn kaum veränderte Verhältnisse: keine Bleibe, keine Arbeit – keine Zukunft.

Eine Möglichkeit, dem Gürtelmilieu zu entkommen, ergibt sich aus den politischen Unruhen, die aller Augen auf das Ungarn des Jahres 1956 blicken lassen. Die versuchte und gescheiterte Antirussland-Revolution führt nicht nur zu einer Flüchtlings-, sondern auch zu einer Spendenwelle, die ganz Österreich ergreift. Hilfsorganisationen schießen wie Unkraut aus dem Erdboden und bieten Halbkriminellen einen Nährboden für den Wechsel ins karitative Berufsgenre.
Otto trifft dort auf den Hüttl-Hansi, der die Lage gut für sich zu nutzen weiß und nun Chef des Antoniuswerkes ist, das sich die Betreuung alter, alleinstehender Menschen zur Aufgabe gemacht hat. Bei Ableben der „Kundschaft“ erbt die Organisation, die sich auf diese Weise eine beinah luxuriöse Existenz finanziert. Als Assistent des feschen Rudolf Vitorelli erlebt Otto einen Aufstieg, dessen Ende unabsehbar scheint. Als die Polizei beim Antoniuswerk nach ihm sucht, wird er umgehend vor die Tür gesetzt. Eine eiserne Regel des Hüttl-Hansi: keine „Kriminellen“ in der Organisation.

In seiner Verzweiflung kidnappt Otto einen Säugling, der ihn an das kleine Bündel erinnert, das ihm Erszebet, eine Ungarnflüchtige, in die er sich Hals über Kopf im Hilfslager verliebt hatte, in die Hand drückte und das er aus Unvorsichtigkeit verlor.
Mit der Verfolgungsjagd beginnt und endet der Roman. Die Entführung des Kindes bildet somit die Rahmenhandlung für die eigentliche Geschichte, die hoffnungslose Kindheit und Jugend eines Kriegs- und Nachkriegswieners. Auf der Flucht erzählt Otto dem Bündel sein bewegtes Schicksal, aus dem er sich schliesslich nur durch den Freitod zu retten weiss.

Ditha Brickwell konfrontiert den Leser mit einem Schicksal, dessen Zeugin sie, geboren 1941 in Wien, vielleicht sogar selbst geworden ist. Ihre lebendige Beschreibung der Topographie der Stadt braucht nicht um Authentizität zu feilschen. Man glaubt der Autorin vom ersten Moment an ihr Wissen um die Situation der Nachkriegsjugend. Von alltagsnahen, mundartversetzten Dialogen und Stammtischgesprächen in Kaffeehäusern und Beisln spannt sich der Bogen über in den Text montierte Versatzstücke aus der Medienberichterstattung der Jahre 1956/57, die mit dem Alltagsgeschehen parallelgeführt werden, bis hin zu surrealistischen Traumsequenzen, deren poetischer Gehalt oft von bestechender Einfachheit ist.
Personen wie Professor Hoff, der sich einen internationalen Namen als Kinderpsychologe gemacht hat, durchziehen den Roman, um die historische Verankerung zu untermauern.

Zwischen Sozialrealismus und (Kino-)Traumwelt hin- und hergerissen, handelt das kurze Leben Ottos von der Suche nach dem eigenen Platz in dieser Welt, die vor dem Auswandern (siehe Prinz Liu und Erszebet) keinen Halt macht. Dass ein „grenzenloses Weiss“ (S. 411) die frühe Endstation sein würde, ahnt der Leser schon sehr früh.
Ditha Brickwell greift mit Der Kinderdieb ein Thema auf, das von Ödön von Horváth und Ferdinand Bruckner, um nur zwei prominente Österreicher zu nennen, bereits vor vielen Jahrzehnten behandelt wurde. Mit dem Zitat von der „Jugend ohne Gott“ (S. 328) setzt sie sich selbst in diesen Kontext, ohne auch nur im geringsten moralisch sein zu wollen.

Ditha Brickwell Der Kinderdieb
Roman.
Wien, München: Deuticke, 2001.
416 S.; geb.
ISBN 3-3-216-30584-8.

Rezension vom 29.08.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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