Der Kalte schildert nun eine Phase der Wiener und der österreichischen Zeitgeschichte Mitte der 1980er-Jahre. Und wohl diese Distanz eines knappen Vierteljahrhunderts, die zwischen der Zeit des Erscheinens und der Erzählzeit liegen, sind es, die diesem Buch so gut tun. Ist er doch vieles in einem: politischer Roman, Künstlerroman, Burgtheater- und Schauspielerroman, Liebesgeschichte und Verzweiflungserzählung, Vater-Sohn-Geschichte, Ehemilieuschilderung, Bruder-Schwester-Geschichte, Shakespeare-Spiegelung, dazu die pointierte Schilderung von Skandalen und deren Entstehungsmilieus – gesellschaftlichen, persönlichen wie interpersonalen. Vor allem aber: ein überaus ambitioniertes Querschnittsbuch durch einen Kosmos namens Wien. Es tritt ein Heer an Personen auf: Journalisten, vom Chefredakteur einer bestimmten Zeitung bis zur sich hochboxenden Jungreporterin, und Schauspieler (urösterreichische wie deutsche, die zur Aufführung via Flugzeug aus Berlin eintreffen), Politiker aller Couleur, ein Bundespräsidentenkandidat, der entscheidende Kriegsjahre auf dem Balkan unerwähnt lässt, und ein impulsiver, jedwedem Kompromiss undiplomatisch polternd entgegentretender Bildhauer, Schoa-Überlebende, zuvörderst der „Kalte“, Edmund Fraul, der KZ-Überlebende, der seit Jahren kühl und ungerührt vor Schülerinnen und Schülern als Zeitzeuge auftritt; Aufsteiger, Karrieristen und Pressesprecher, die selber Schicksal spielen wollen und dies auch tun.
Mehr als ein halbes Dutzend Ich-Erzähler treten auf. Und wieder ab. Und wieder auf. Gerade dies macht diesen ausgreifenden, imposant breit angelegten und somit wahrhaft kaleidoskopischen Roman voller Intrigen, Possen, Neidereien und Sudereien, voller Eifersüchteleien und Skandale lebendig. Selbst wenn eine Person, beispielsweise eine Turnusärztin, die an der Liebe zu Frauls Sohn Karl, einem hochehrgeizigen wie im persönlichen Umgang eher lieblos rauen Schauspieler, verzweifelt und sich das Leben nimmt, verstorben ist, taucht sie dann doch wieder und weiter auf als Ich-Erzählende. Immer wieder muss man bei der Lektüre somit verharren und einen imaginären Schritt zur Seite machen, um zu verifizieren, aus welchem Munde, durch wessen Augen gerade diese oder jene Episode in überwiegend unverschleierten Lokalitäten, vom Kaffeehaus Korb bis zum Atelier eines Bildhauers und zu Parteizentralen, geschildert wird. Es ist ein Gesellschafts-Menschen-Reigen, den so umfassend und ausgreifend seit Jahren kein österreichischer Autor mehr gewagt hat. Und es dürfte eine Herausforderung für Historiker, Archivare und gleich mehrere germanistische Hauptseminare sein, wirklich alle Personen zu identifizieren, die Schindel in seinem „Schlüssel“roman auf- und vorbeiparadieren lässt, auch wenn dies bei manchem, etwa dem streitbaren Bildhauer Herbert Krieglach, einfach sein dürfte: Als dessen direkte Inspiration diente in sachter Überzeichnung Alfred Hrdlicka. Oder bei einer Kulturredakteurin, die sich recht grußlos und etwas hochfahrend nach Hamburg verabschiedet (Sigrid Löffler), wo sie in die Redaktion der Zeitung Echo (Die Zeit) eintritt. Oder beim sehr norddeutsch sprechenden Burgtheaterdirektor Dietger Schönn, hinter dem kaum verschleiert Claus Peymann hervorlugt. Weil dies oftmals so einfach erscheint, steht zu vermuten, dass der 1944 geborene, anspruchsvolle Lyriker Schindel, seit mehreren Jahren Lehrender am Institut für Sprachkunst der Universität für angewandte Kunst, hier vielmehr Größeres, ja nichts Geringeres anvisiert: eine Charaktermaskenstudie einer Stadt und eines Landes, eine Mentalitätsvermessung, die im Umgang mit der Vergangenheit, vor allem mit der nationalsozialistischen, an drei zeitlich benachbarten Ereignissen und „Affairen“ – der Wahl Kurt Waldheims zum österreichischen Bundespräsidenten, der Aufstellung von Hrdlickas Mahnmal gegen Krieg und Faschismus am Philippshof auf dem Albertinaplatz/Helmut-Zilk-Platz sowie der Aufführung von Thomas Bernhards Stück Heldenplatz – pointiert und dramaturgisch fokussiert zusammengeführt wird.
Leider ist dem Suhrkamp-Verlag jedoch eine gestalterisch-typografische Unsitte vorzuhalten. Dass in diesem ausgreifenden, vielköpfigen, ja geradezu monumentalen Roman auf den Einzug bei Absätzen, besonders jedoch bei den Dialogen verzichtet wurde, erschwert unnötigerweise die Lektüre. Zudem ist irritierend, dass neben stimmigen österreichischen Begriffen, Bezeichnungen und Wendungen dann unvermutet Hoch- bis Norddeutsches aufscheint.