#Prosa

Der junge Mann und das Meer

Hanno Millesi

// Rezension von Evelyn Bubich

Ins Museum mit einem Tintenfisch. Glück sei etwas, das in vielen Formen komme, doch wer könne es erkennen, fragt ein alter Mann, dessen berühmte Begegnung mit einem Fisch, einem sehr stattlichen, einem mit ozeanisch tiefem Überlebenswillen, in einer Parabel der menschlichen Existenz kulminiert.

Ernest Hemingways The Old Man and the Sea ist auch die Geschichte einer Errungenschaft, eines Sieges, eines Triumphs. Der Fischer triumphiert über den Fisch, doch welche Bedeutung hätte der Fischer ohne seinen Fisch? Wohingegen sich ein Fisch ohne Fischer einfach seines Lebens erfreut …

Dass das Glück auch in einer ersten Berührung liegen kann – „[f]ür den jungen Mann handelt es sich dabei um eine erste Berührung. Nicht nur die erste eines Tintenfisches, den er nun schon eine ganze Weile mit sich herumträgt, sondern um eine erste Berührung in dem Sinn, als sich das, was er da berührt, mit nichts, was er je zuvor berührt hat, vergleichen lässt“ –, wird dem Protagonisten in der titelgebenden Erzählung in Hanno Millesis Der junge Mann und das Meer auf wundersam-bizarre Weise gewahr.

Durch eine Verwechslung – „Ob die Fischer ihn für den Einkäufer eines Restaurants halten?“ – oder das unverfrorene Verkaufstalent eines Fischhändlers sieht sich der junge Mann plötzlich im Besitz eines weißen Plastiksacks, aus dem alsbald die Tentakel eines Tintenfischs ragen. Ehe er sich’s versieht, „[liegt seine] Hand auf einer Weichheit, einer Verletzlichkeit“; diese Annäherung zwischen Mensch und Tier ist von großer Vorsicht und Zärtlichkeit geprägt.
Damit beginnt eine Reise, die den jungen Mann, dessen Charakter von ständigen Zweifeln und dem Sich-stetig-ins-Bewusstsein-Rufen aller Eventualitäten geprägt ist, nicht nur dem Tintenfisch, sondern vielleicht auch sich selbst näherkommen lässt. Zunächst schippern die beiden gemeinsam – ja, ausgerechnet – auf einem Boot namens Prélude im Hafen herum. Sie besuchen das Heeresgeschichtliche Museum und einen Fast-Food-Laden.

An allen Orten ergeben sich Situationen, die die Frage nach dem Recht des Stärkeren aufwerfen. Und die Leserin/der Leser erinnert sich vielleicht: Auch Hemingways Protagonist Santiago verneigt sich vor seinem Fisch, weil er spürt, dass ihm dieser eigentlich nicht gehört, weil er niemandem gehört und dass der Fisch dieselbe Daseinsberechtigung besitzt wie er – auch in dieser Erkenntnis liegt Glück.
Der junge Mann fühlt sich dem Tintenfisch zunehmend verbunden. Ersterer erkennt Zweitere:n als gleichwertiges Geschöpf – zumindest bis sich auf die „Dämmerung des Morgens“ wieder unweigerlich „die Dunkelheit [des] Abends“ legt.
Die meisterhafte und unkonventionelle Schilderung unscheinbarer Ereignisse lässt die den größten Teil des Erzählbandes einnehmende Erzählung mit jeder weiteren Buchseite heranwachsen zu einem literarischen Spaziergang durch ein Skurrilitäten-Kabinett, das beinahe zu Tränen rührt ob seiner zerbrechlichen Schönheit und der Situationskomik, die die Absonderlichkeiten des Lebens erst verdeutlicht.

Das Meer: Metapher für Unendlichkeit und Verborgenes. Wie sich als Individuum darin zurechtfinden? Wie als Resonanzwesen dem begegnen, dem zu begegnen man sich scheut? Es sind leitmotivische Elemente wie dieses, die sich in den Erzählband eingeschrieben haben. Etwa die Magie eines zu Boden gleitenden Blattes, während sich der Wunsch nach Konsumation nicht zum ersten Mal als etwas nicht Substanzielles herausstellt (Shopping), eine Art Umkehr inhumaner Leidenschaften, die in die Geschichte – auch in jene menschlicher Grausamkeit – eingegangen sind (Old School), das Kleider-machen-Leute-Vexierspiel (Ein Mann und eine Frau) oder ein Leben als Missverständnis (Leibgericht).

Hanno Millesi schafft die Expansion des Möglichkeitsraumes – rätselhafte Wesen, überraschende Wenden, bizarre Begebenheiten, die Sprache geschliffen wie ein Spiegel; als würde ein Sonar die Tiefen des Meeres abtasten, immer ein wenig vorbei am Glück.

Hanno Millesi Der junge Mann und das Meer
Erzählband.
Wien: Edition Atelier, 2023.
120 S.; geb.
ISBN: 978-3-99065-091-2.

Rezension vom 05.07.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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