Er sieht in ihr den idealen Kompagnon für die Begleitung seines eigenen Manuskripts, den handgeschriebenen „Jahrhundertroman“. Sie soll ihn in ihren Laptop tippen. Als sich Lisa darauf einlässt, kommt ihr das unpaginierte Manuskript durcheinander – für Roch ein kleiner Skandal. Der Roman ist nämlich eine chronologische Abfolge ineinander verschachtelter Geschichten, Anekdoten, Szenen und Bonmots um österreichische Autoren und Autorinnen aus dem 20. Jahrhundert seit Ende der Monarchie, begonnen mit Robert Musil, der 1918 im Pyjama in Rochs Nachbarhaus in der Florianigasse am Fenster steht.
Als er beginnt zu sortieren – Lisa kann nicht helfen, sie hat keine Ahnung, wann Handke, Bernhard und wie sie alle heißen welche wichtigen Werke geschrieben haben –, lässt Peter Henisch die Leser/innen mit Roch in sein phantasievolles Reich möglicher Welten treten, je nachdem was er gerade, Seite für Seite, liest: Thomas Bernhard, im Volksgarten vor der Uraufführung des „Heldenplatz“ sinnierend, wie er sich nach Favoriten stehlen könnte, um anonym auf ein Gulasch mit Bier zu gehen; Joseph Roth, wie er von Paris nach Wien reist, um sich für die Wiedererweckung der Monarchie mit Otto Habsburg an der Spitze einzusetzen, damit Österreich vor den Nazis gerettet wird; Heimito von Doderer, mit dessen zweifelhafter Gesinnung der Autor hadert; während er Ingeborg Bachmann als Studentin an der Uni Wien Heidegger lesen lässt, derweil die Dichterin sich mit der Frage quält, ob sie sich am Preisausschreiben für einen neuen Text der österreichischen Nationalhymne beteiligen soll oder nicht. Ernst Jandl und Friedericke Mayröcker entdecken im Buchladen ein famos illustriertes Kalif-Storch-Buch, was Jandl zu seinem Eulen-Gedicht inspiriert; der greise Albert Drach rennt mit Parasolpilzen in der Hand auf die Autobahn; inzwischen erfährt H. C. Artmann auf einem Klo in Malmö von Konrad Bayers Selbstmord. Über den kunstvoll miteinander versponnenen, spannenden, lustigen und auch beklemmenden Anekdoten schwebt die Frage: „Was wäre gewesen, wenn?“ Sie laden zum Weitersinnieren ein, wie es das Schicksal mit den Protagonist/inn/en und der österreichischen Geschichte wohl gemeint hätte.
Und obwohl der Generationsunterschied zwischen den beiden mehr oder weniger Bibliophilen, Roch und Lisa, sich auch in Lebenswelt und -anschauung, dem Zulassen alterspezifischen Verhaltens, natürlich in der Flüchtigkeit und Kurzlebigkeit der postindustriellen, digital verwöhnten Gesellschaft versus Leben in der Nachkriegszeit zeigt, obwohl zwei Welten aufeinanderprallen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, zeigt sich am Ende, wann der Mensch dem Menschen ähnlich geblieben ist. Es ist nicht das mögliche Interesse an Literatur, es sind Teilhabe und Mitgefühl angesichts einer menschlichen Katastrophe. Am Ende kommt man nicht auf die Idee, dass es ungünstiger Gesellschaftszustände bedarf, um ein gutes Buch zu schreiben. Sondern darauf, alles Menschenmögliche zu tun, um tatsächliche Lebensverhältnisse zu verändern. Es kommt weniger darauf an zu wissen, was der Möglichkeitssinn ist, und mehr, ihn im Leben walten zu lassen.
Der Jahrhundertroman ist ein Buch, das dank seiner spannenden Handlung, seiner eingängigen Sprache und kunstvoll-schlüssigen Dramaturgie verschlungen werden darf, ohne dass es uns ein Vorwissen über die österreichischen Autor/inn/en abverlangt. Henisch führt vor Augen, wie schnell sich die Dinge verändern über zwei Generationen. Dieser Spalt wird deutlich sichtbar: in einer einzigen Gegenwart. Sichtbar wird aber auch, dass Alter und Zeit keine Rolle mehr spielen, wenn es um das nackte Leben geht.