#Roman
#Debüt

Der Hungerkünstler

Georg Elterlein

// Rezension von Gerald Lind

Andreas Tretter, Ich-Erzähler und Hauptfigur in Georg Elterleins Debütroman Der Hungerkünstler, hat einen Plan: Der ehemalige Tennisprofi möchte auf eine ägäische Insel fahren, um dort zu verhungern. Mit der Formulierung dieses Vorhabens beginnt der Text. Der Suizidplan bildet den Fluchtpunkt der Erzählung, er sorgt für eine dunkle Grundierung der Geschehnisse und wird im Laufe des Romans über eine Reihe von Themen ergründet: Familiäre Verstrickungen, unaufgearbeitete Vergangenheiten, die Mühen der Adoleszenz, Erwartungen an das Leben und an den Tod.

Georg Elterlein geht dabei behutsam mit seinen Figuren um, stellt sie nicht bloß, sondern zeigt anhand von komplizierten Beziehungskonstellationen und un/umgänglichen Situationen grundlegende Probleme menschlichen Zusammenlebens auf. Von dieser intensiven Auslotung des Umgangs miteinander leitet Elterlein das zentrale Thema des Textes ab: Verantwortung zu übernehmen, ungefragt, für sich und für andere. In der neoliberalen Weltordnung mag das zwar antiquiert wirken, nicht ohne Grund spielt „Der Hungerkünstler“ Mitte der 1980er Jahre, jedoch ist das ein Problem der Zeit – und nicht des Romans.

Zu Beginn treffen wir Andreas in der psychiatrischen Klinik, in die er mit 42 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,80 m eingeliefert wurde. Es ist sein 19. Geburtstag und genau an diesem Tag hat er jene 50 Kilogramm erreicht, die es ihm erlauben, die Anstalt wieder zu verlassen. Als er nun mit den Vorbereitungen für seine letzte Reise beginnt, erfährt er, dass soeben seine Großmutter Marcella verstorben ist. Mit dieser Verdichtung der Ereignisse auf einen Tag beginnt sich das Räderwerk der Handlung zu drehen. Andreas beschließt, Verantwortung zu übernehmen für seinen „Wahl-Opa“ Ernst Prohaska, den Lebensgefährten von Marcella. Kurzentschlossen springt er aus dem schon abfahrenden Zug, der ihn zum Ort des Selbstmords bringen sollte, auch wenn bald wieder Zweifel auftauchen: „Du hättest nur drinnen bleiben müssen. Aber du hast den Hebel nach unten gedrückt. Und jetzt? Bis zum Begräbnis hast du vor zu bleiben. Den Alten unterstützen, weil er immer für dich da gewesen ist.“ (S. 49)

Diesen „Alten“ hat Elterlein als komplexen Charakter angelegt, der nicht nur liebenswürdig und verständnisvoll ist, sondern ebenso trinkt und raucht, sich störrisch, uneinsichtig und unberechenbar verhält. Prohaska ist ein Außenseiter innerhalb der Familie Tretter, der von den Kindern seiner Lebensgefährtin und vor allem von Andreas‘ Vater nie anerkannt wurde. Andreas‘ Eintreten für ihn ist deshalb gleichzeitig ein Auftreten gegen den Vater, und sein Hungern ein Aufbegehren gegen dessen Pläne, aus ihm einen Tennisprofi zu machen: „Das Eisen muss man schmieden, solange es heiß ist. Vaters Worte damals. Ich das Eisen, er der Hammer.“ (S. 189f) Erscheint ihm der Vater als Hammer, so sind die Erinnerungen an die Mutter, eine Alkoholikerin, die Selbstmord begangen hat, wie Fausthiebe. Es ist eine verworrene, tragische Familiengeschichte, deren Last Elterlein seine Erzählerfigur tragen lässt.

Der Konflikt innerhalb der Patchwork-Familie spitzt sich nach dem Tod von Marcella zu. Andreas‘ Vater möchte den Garagenhof seiner verstorbenen Mutter, die mit Prohaska eine Spedition betrieben hat, abreißen, um ein Tenniscenter zu eröffnen. Prohaska indessen plant aufgrund eines Versprechens im spanischen Bürgerkrieg, am dem er als kommunistischer Kämpfer teilgenommen hat, an derselben Stelle einen Orangenhain zu pflanzen und ein spanisches Lokal zu eröffnen. Elterlein setzt (nicht nur) hier auf eine deutliche Symbolik: Der Orangenhain steht für die verlorene Jugend Prohaskas, für einen lange gehegten Traum, für die Sehnsucht nach einem besseren Leben, für Schönheit und Ruhe. Das Tenniscenter hingegen steht für Andreas‘ verlorene Jugend, für seinen Alptraum, für die Sehnsucht seines Vaters nach einem besseren Leben, für die tägliche Qual des Trainierens und den Lärm des Tätigseinmüssens. Aufgrund der rechtlichen Lage setzt sich der Vater durch und Prohaska bricht zusammen, alles scheint sich gegen Andreas verschworen zu haben, gäbe es da nicht die Geschichtsstudentin Greta Knook, die von allen Krähe genannt werden will…

Der Hungerkünstler hat wenig mit der gleichnamigen Erzählung von Franz Kafka gemein. Eher drängen sich Parallelen zu anderen Texten auf, die adoleszente Sinnsuche und jugendliches Aufbegehren gegen die Zwänge der Welt thematisieren wie etwa Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törless“ (1906), Hermann Hesses „Unterm Rad“ (1906), Jerome D. Salingers „Der Fänger im Roggen“ (1951) oder – um ein aktuelles Beispiel zu erwähnen – D. B. C. Pierres „Jesus von Texas“ (2003). Im Angesicht der Weltwirtschaftskrise ist Elterleins Roman aber auch als zeitkritisches Statement lesbar. Ein neoliberaler, neokonservativer Grundsatz lautet: „Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht.“ Der Hungerkünstler zeigt hingegen, wie man an sich selbst denkt, wenn man an andere denkt.

Georg Elterlein Der Hungerkünstler
Roman.
Wien: Picus, 2009.
313 S.; geb.
ISBN 978-3-85452-641-4.

Rezension vom 25.03.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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