Im Weiteren sehen wir sie im Zusammentreffen mit Mark, der etwas wie ein Freund ist. Bald ist die Rede von der „Anstalt“, in der sie eingeschlossen ist und wo sie sich jeder Kommunikation und der sie bewachenden „Kontrolle“ entzieht. Nur mit Mark erreicht sie kleine Ausflüchte aus ihrer Sprachlosigkeit. Als Mark den Entzug schafft und entlassen wird, reagiert sie mit Trotz. Nachts streift sie durch die leeren Gänge der Anstalt, bleibt unerreichbar für die anderen.
Parallel dazu wird von Ina erzählt, die sich auf einer abenteuerlichen Reise durch Sibirien befindet. Sie hat sich Boris anvertraut, einem Lastwagenfahrer, der sie zur Winterstraße bringen soll. Dort will Ina eine Raststätte aufbauen, obwohl sie weiß, dass die Sitten in Sibirien rau sind wie das Land selbst. „Auf der Winterstraße lassen die Lastwagenfahrer die Tür offen, damit sie jederzeit herausspringen können, wenn das Fahrzeug unkontrollierbar ins Rutschen gerät.“ (S. 30). Ein Szenenwechsel bringt sie von der Straße weg in ein verlassenes Werksgelände, wo sie zu Boris‘ „Assistentin“ bei der Bewachung desselben mutiert. Den verwahrlosten, inmitten von Sumpf und Morast gelegenen Ort werden sie erst im Winter über den dann zugefrorenen Boden wieder verlassen können. Dennoch macht Boris sich mit dem Versprechen „später“ wiederzukommen davon, und Ina muss bald erkennen, dass „später“ möglicherweise zu spät ist.
Etwa ab der Mitte des Romans offenbart sich die gemeinsame Vergangenheit der Frauen. Hat man die beiden bisher für zwei Personen gehalten, so verstärkt sich nach und nach die Annahme, dass es sich um ein und dieselbe handelt, von der in / aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird. Die Autorin lässt offen, ob sich ihre Protagonistin aus der Anstalt befreit und tatsächlich nach Sibirien in die „gefährlichste Stadt der Welt“ gereist ist, oder ob sie – mit dem Sibirien-Bildband auf dem Schoß – alles nur träumt. Wie dem auch sei: Sowohl das Anstalts- als auch das Sibirien-Szenario wirkt wie ein nicht enden wollender Alptraum. In der Hoffnung, dass dieser wie jeder Traum einmal ein Ende hat, gibt man sich dem unheimlichen Sog des Romans hin. Ina erlebt immer neue Bedrohungen in ihrem einsamen Gefangenenlager: Sie verirrt sich in den umliegenden Wäldern, sie erkrankt mit hohem Fieber, sie rationiert die Konservendosen für eine unbestimmte Zeit, sie fällt in einen Schacht – nicht nur dann ist der Himmel ein kleiner Kreis – und der Tod durch Erfrieren bei minus fünfzig Grad ist allgegenwärtig.
In der Schlussszene, als Ina plötzlich das Gewehr auf den wiedergekehrten Boris richtet, drängt sich schlagartig die Parallele zum Roman von Marlen Haushofer Die Wand auf. Schon die vollkommene Abgeschiedenheit Inas in den sibirischen Wäldern schafft eine ähnliche Prädisposition. Da wie dort wird eine unsichtbare Wand (bei Schutti im übertragenen Sinn) zwischen der Romanfigur und der Welt errichtet. Da wie dort ist diese gefordert, sich auf eine unbestimmte Zeit des Überlebens einzurichten, was sie unter anderem mittels der Jagd bewerkstelligt. Die eine wie die andere entwickelt Rituale, um die Zeit zu strukturieren, vor allem aber ist sie gefordert, sich ihren Ängsten und der Isolation zu stellen. Während die Protagonistin in Die Wand als Ehefrau und Mutter dem „typischen“ Frauenbild der 1960er Jahre entsprach, begegnen wir in Schuttis Roman einer jungen alleinstehenden Frau, die sich in einem Männerberuf (als Bootsbauerin) profilieren will. Im Gegensatz zur Haushofer-Romanfigur, die umgeben von Haustieren auf Emotionalität nicht verzichten muss und die Befreiung von den Zwängen der Fremdbestimmung positiv erlebt, bleibt die Ich-Erzählerin / Ina in ihrem erniedrigenden Warten auf Erlösung aus der Einsamkeit gefangen. Die übereinstimmende Schlussszene hat in beiden Fällen – in letzterem nur weniger überraschend – dasselbe Ziel: die Abwehr der existentiellen Bedrohung, die von einem männlichen Gegenspieler ausgeht.
Wiederholt beschäftigt die Tiroler Autorin einerseits die Sprachlosigkeit (Eulen fliegen lautlos, 2015) und andererseits die Versuchsanordnung ihrer Romanfiguren in einer von der Zivilisation abgeschnittenen Welt (Patagonien, 2020). Die beim Ingeborg Bachmann Wettbewerb 2020 kontrovers geführte Diskussion über einen Ausschnitt aus dem aktuellen Roman (unter dem Titel Nadjeschda) hat die Autorin veranlasst, den Text nachzuschärfen. Das Ergebnis ist eine Sprache, die bar jeder Sentimentalität die zerbrechliche Innenwelt ihrer Hauptfigur offenlegt. Die Darstellung ihres inneren Kampfes gegen den Kontrollverlust und für das Recht auf Autonomie gelingt überzeugend.
Der Kontrast zwischen dem alptraumhaften Geschehen und den poesievollen Naturbildern macht den Roman zu einer beeindruckenden Lektüre. Schutti legt ihre ganze Kraft in die Beschreibung einer einsamen Welt in der Tiefe der Wälder, der Kälte und des Schnees. Die Einsamkeit ihrer Erzählfigur liegt im Inneren wie im Äußeren. Am Ende ist man nicht sicher, ob sich der kleine Kreis des Himmels je öffnen wird.