#Prosa

Der grüne Vogel des Äthers

Grete Gulbransson

// Rezension von Petra Nachbaur

Die Vorarlberger Dichterin Grete Gulbransson (1882-1934) – Verfasserin des Romans „Geliebte Schatten“, mehrerer Lyrikbände, Balladen und eines Heimatstückes – schrieb von ihrem fünfzehnten Lebensjahr an regelmäßig Tagebuch. Entstanden sind dabei Tagebücher, die sie selbst durchnumerierte, 222 an der Zahl, circa 90.000 Seiten. Ein Forschungs- und Editionsprojekt am Innsbrucker Brenner-Archiv hat sich zum Ziel gesetzt, den gesamten Nachlaß auf CD-Rom zugänglich zu machen und eine repräsentative fünfbändige Tagebuchedition herauszugeben – der erste Band liegt inzwischen vor.

Die Auswahl für den ersten Band beginnt bei Tagebuch „16“ und setzt in Grete Jehlys – erst seit der Heirat mit dem Maler Olaf Gulbransson im Jahr 1906 trägt die Autorin den norwegischen Nachnamen – zweiundzwanzigsten Lebensjahr ein mit dem perfekten Auftakt „Räuberle hat mir dieses Tagebuch hergeschmuggelt. Es ist eine Krankheit von mir, das ewige Sezieren und Aufschreiben von Stimmungen, aber ich brauche es!! Es ist ein Stück meiner selbst.“ (S. 44)

Dieses „Stück ihrer selbst“ gibt tatsächlich einen offenen und lebendigen Einblick in Leben, Fühlen und Denken dieser jungen Frau. Aus künstlerisch interessierter, wohlhabender Familie stammend, verlor sie früh ihre Eltern und übersiedelte nach München. Dort geriet sie bald, zum Leidwesen ihres konservativen Vormunds, in den Kreis um den Verleger Albert Langen und die satirische Zeitschrift „Simplicissimus“. Auch ihren zukünftigen Ehemann, Olaf Gulbransson, lernte die junge Frau, die seit längerem künstlerische, insbesonders literarische, jedoch auch bildnerische und musikalische Ambitionen hegte, dort kennen. Dieses Umfeld der Münchner Moderne schildern bereits die Tagebücher der Jahre 1904 bis 1912 und gelten insofern als bemerkenswertes literatur- und kulturgeschichtliches Zeugnis.

Durch ausführliche und lebendige Beschreibung ihrer Tagesabläufe entsteht ein anschauliches Bild der Bohème- und Künstlerszene um die Jahrhundertwende, und gerade diese Verzweigungen und Vernetzungen, diese Einblicke in und Seitenblicke auf einen literar- und kunsthistorisch relevanten Personenkreis werden oft als Rechtfertigung für die etwas üppig geratene Ausgabe herangezogen. Mindestens so interessant sind jedoch wohl Selbstwahrnehmung und widergespiegelte Fremdwahrnehmung, Selbststilisierung und Selbstkritik einer Frau im Spannungsfeld zwischen „einmal […] ganz der Bauern-Mensch und einmal ganz Lady“ (S. 74), zwischen künstlerischem Anspruch und mangelnder Konsequenz.

Aus ihren Tagebüchern entsteht ein Bild von Grete Gulbransson als wache, aufnahmebereite, selbstbewußte und lebenslustige junge Frau mit zum Teil vagen, aber nicht weniger überschwenglichen Plänen: „Ich triefe von Ideen“ (S. 102), schreibt die angehende Literatin nach ersten kleinen Erfolgen. Beinahe rührend wirkt es, wie sehr sich Zuspruch und Anerkennung sofort motivierend auswirken. Andererseits weiß sie selbst um ihre Probleme, was (Arbeits)Disziplin betrifft; sie läßt sich gerne und voll Genuß ablenken. Von Gesprächen gleichermaßen wie von Theaterbesuchen, von einem Ausflug gleichermaßen wie von einem neuen Hut kann Gulbransson geradezu ‚high‘ werden. Sie ist außerordentlich begeisterungsfähig und allem Anschein nach auch fähig, selbst zu begeistern, sodaß sie sogar aus ihrem Mangel an Intellektualität noch Gewinn schöpfen kann: „Sie freuen sich über meine absolute Unbelesenheit und Drachmann sagt, ja nicht Heine etc. lesen. Ja nicht beeinflusst werden!“ (S. 106).

Gulbransson läßt sich mitreißen von Stimmungen und von ihrer Rolle als faszinierende Belebung und Auffrischung der Kunstszene: „Ach wie geniess ich’s, so eine Münchner ‚Figur‘ zu sein und überall vornedran.“ (S. 308) Oft macht sie andererseits einen verbohrten, provinziellen Eindruck, wenn sie etwa durch die Lektüre von Marie Janitschek geradezu abgestoßen wird. Der Tenor ihrer Aufzeichnungen ist emphatisch und enthusiastisch, stürmisch-strahlend („und ich schrei‘ und hüpf‘ vor Seligkeit und kann mich nimmer halten“ S. 255) bis kleinmädchenhaft-anhimmeld: „Wie denkt er unendlich viel!“ (S. 256 über Hermann Hesse). „Mein Kopf ist wie ein heisses Blütenfeld voll Schmetterlingen“ (S. 356), trifft recht gut den Geistes- und Gemütszustand dieser interessierten und sensiblen Frau, die in all ihrem Enthusiasmus und ihrer Aufnahmefähigkeit oft auch chaotisch, verworren und verloren wirkt.

Für die Autorin und gegen den Verdacht der Stilisiertheit sprechen auch der Mut und die Ungeniertheit, zu den eigenen Unzulänglichkeiten zu stehen, Besitzansprüche zu deklarieren, irrationale oder nachvollziehbare Eifersucht an- und auszusprechen. Sie habe sich benommen „wie ein Schulmädel“ (S. 62) heißt es zerknirscht an nicht nur einer Stelle im Text. Zugleich jedoch weiß Grete Gulbransson sehr wohl um ihre Wirkung als Frau – ihre Attraktivität und ihr selbstbewußtes ‚Posing‘ dokumentieren zahlreiche Fotografien – und setzt diesen Effekt mit beträchtlichem Genuß ein. Gulbransson bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr wirkt jedoch nicht nur selbstbewußt und voller Lebenslust, sondern oft auch oberflächlich, eitel, schwärmerisch und naiv.

Eher zufällig gelingen ihr treffende und pointierte Formulierungen: „Dann heisse Debatten über die Frauenfrage. Er ist in eine Frauenrechtlerin verliebt und ist deshalb fanatisch. Wär’s eine Gärtnerin, wären’s Kohlköpfe!“ (S. 283f.)
Ansonsten bleibt ihre Sprache – auch insofern scheint der Vorwurf der Stilisierung kaum haltbar – zumeist in der authentisch wirkenden Wiedergabe jugendlich-emphatischer Geschwätzigkeit verhaftet. Man ist „furchtbar traurig“, „furchtbar nervös“, „furchtbar müd“, „furchtbar glücklich“, „furchtbar lieb“, „unerhört schön“, „unendlich schön“, „unendlich lieb“, „unendlich glücklich“, „fabelhaft schön“, „total caput“, und irgendwie ist doch alles „unendlich einfach“. Diese Diktion einer expressiv-subjektivistischen Ausdrucksweise der Moderne zuzuschreiben, erscheint eher fragwürdig.

Doch trotz dieser Ignoranz gewisser ästhetischer Kriterien gelingen Gulbransson auch Schilderungen voll Intensität und modernem Lebensgefühl, das besonders in ihrem Faible für Geschwindigkeit zum Ausdruck kommt. Energiegeladen und dynamisch ist die Beschreibung ihrer ersten Begegnung mit dem späteren Geliebten und Ehemann Gulbransson, eine Begegnung, die zusammenfällt mit der ersten, langersehnten Fahrt im Automobil. Ähnlichen ‚Drive‘ hat die festgehaltene Erinnerung an eine Autofahrt auf Spuren des Zeppelin. „Wie der leibhaftige Teufel fahren wir und alle meine glühenden Wünsche sausen uns noch weit voraus.“ (S. 269)
Im Kontrast dazu stehen romantisierend verklärende Naturbeschreibungen und ein sentimentales Heimatempfinden, das in ihren Vorarlberg-Schilderungen zum Ausdruck kommt.

Unfreiwillig komisch wirkt, wenn die Siebenundzwanzigjährige in einem kurzen Anflug von Krise schreibt: „Ich muss an die saudummen Sommerkleider denken. […] Und dabei quält mich, dass ich nichts leiste – nicht kann ich singen – nicht spielen – nicht zeichnen – nicht schreiben und zu all dem hätte ich Talent, wenn ich es nur zur rechten Zeit ausgebildet hätt‘. Jetzt bin ich alt und lächerlich mit meinen kindischen Kunstwerken.“(S. 266).

„Ich muss den Wert der Zeit und des Geldes lernen und beider Begrenzung!!!!!“ (S. 122) mahnt Gulbransson sich selbst mit der Eindringlichkeit von fünf Rufzeichen – eines dieser Rufzeichen möchte man auch dieser insgesamt im Aufwand wohl etwas groß geratenen Ausgabe zu bedenken gegeben haben, und eine gewisse „Überdimensioniertheit“ wurde auch mehrfach beanstandet. Zu Grete Gulbransson allerdings paßt die Ausgabe mit ihrem kulinarischen und üppigen Erscheinungsbild – faksimilierte Briefe, Fotos, Postkarten in Farbe – so gut wie die nüchterne, sachliche Aufmachung der Ebner-Eschenbach-Tagebücher zu den trocken-protokollarischen Aufzeichnungen der Baronin.

Bedenklich ist, wenn der Funke sprudelnder Emphase auf die Interpunktion der Herausgeberin überspringt: „Sie erhielt die Gelegenheit, im Kreis von Künstlern und Intellektuellen zu wirken!“ (S. 24) heißt es im Vorwort mit einem tagebuchschreiberinnenhaften Rufzeichen. Und wenn die Bildunterschrift (S. 254) zu einem Foto des Liebespaares „Olaf und Grete bei einer vergnüglichen Ruderbootpartie …“ mit ‚vielsagenden‘, dem Leser vertraulich zuzwinkernden drei Punkten versehen ist, drängt sich leise Skepsis auf angesichts so viel Intimität – nicht auf dem Foto, sondern zwischen Herausgeberin und Leserschaft. (Auch der Kommentarteil wäre im übrigen einen eigenen Kommentarteil wert.)

Sieht man ab von der Edition einerseits, vom kulturgeschichtlichen Hintergrund andererseits und betrachtet das Textmaterial als chronologisches Konvolut von Aufzeichnungen einer Künstlerin über die sie direkt umgebende und unmittelbar betreffende Gesellschaft, über Bekanntschaften, Liebschaften, die eigene Arbeit, Zweifel und Begeisterung, so ist dieses gar nicht so weit entfernt von zeitgenössischen Aufzeichnungstexten wie etwa dem Graz-Tagebuch von Gundi Feyrer. Was man daraus nun für Schlüsse ziehen kann, sei dem Leser überlassen.

Grete Gulbransson Der grüne Vogel des Äthers
Tagebücher.
Hg. und kommentiert von: Ulrike Lang.
Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 1998.
471 S.; geb.
ISBN 3-87877-690-X.

Rezension vom 08.04.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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