#Prosa

Der Große Fall

Peter Handke

// Rezension von Janko Ferk

Peter Handke hat im Jahr 1987 eine großartige „Berufs“erzählung veröffentlicht, den „Nachmittag eines Schriftstellers“. Ein Text, der glaubwürdig und nachvollziehbar war, im weitesten Sinn sogar spannend. Nun hat er sich mit einer weiteren Profession beschäftigt, und zwar mit der des Schauspielers. Dem „Großen Fall“ können die zuletzt gebrauchten Attribute nicht nachgesagt werden, nicht einmal in Kenntnis der Rezensionen des bundesdeutschen Feuilletons, was zu begründen sein wird.

Wie vermerkt, geht es um einen namenlosen und in die Jahre gekommenen Schauspieler, der die Öffentlichkeit meidet und ab dem folgenden Tag in einem Film über einen Amoklauf die Hauptrolle spielen wird. „Mit seinen Filmen war er zum Star geworden, …“ (S.16.) Und: „Seit ein paar Jahren war er nicht mehr aufgetreten, weder auf einem Theater noch im Film.“ (S.17.)
Die Story ist nicht klassisch, der Erzählbogen jedoch schon. Die Geschichte beginnt am Morgen, als der Schauspieler „im Haus der Frau“, mit der er die Nacht verbracht hat, aufwacht, um dann – die Wälder durchstreifend – in die Megapole, mit der offensichtlich Paris gemeint ist, zu gehen, wo er am Abend die Frau, „die ihm gut war“, wiederzusehen gedenkt.

Es geht um das Gehen, Gehen und noch einmal Gehen. Trotzdem kommt die Geschichte nur sehr langsam vom Fleck. Der Große Fall ist eine einzige Bewegungsgeschichte, eine solche der Schneckenbewegung, wobei der Schriftsteller den Schauspieler vor der Begegnung mit der gut tuenden Frau, wie knapp davor auch immer, innehalten lässt. Die kleinen Erlebnisse des Gehers im Anzug mit dem zu Boden gerichteten Blick formuliert Handke wie Wort gewordene Augenblicksaufnahmen.
Eine Waldlichtungsszene, die Handke ebenso sehr genau beschreibt, wirkt wie eines seiner Theaterstücke aus den letzten Jahren oder zumindest eine umfangreiche Szene daraus. An der Leserin und dem Leser huschen alle vorbei, die Fitnessläufer, Radfahrer, Pilzsucher und Wanderer, ja sogar der Präsident mit Leibwache, der den Schauspieler am Abend für seine Leistungen auszeichnen sollte, wozu es jedoch nicht kommen wird, weil sich der Mime der Auszeichnung entzieht. „Ja, der Schauspieler würde, das war nun beschlossen, die Feier zu seinen Ehren, am Abend dort unten, dort in der Hauptstadt, sein lassen.“ (S.189.)
Eigentlich könnte man die
ganze Szene „Augenzeugenbericht“ nennen, wie einen Handke-Text aus seiner Autorenfrühzeit. Der Autor selbst nennt es „neues Welttheater“. Und zur Erklärung heißt es in Handkescher Manier: „Die Unbekannten bildeten … ein Miteinander.“

Beim Lesen wartet man zweihundertneunundsiebzig großzügig bedruckte Seiten lang auf den „Großen Fall“. Erfolglos. Oder vielmehr vergeblich. Der letzte Satz lautet: „Statt dessen der Große Fall.“ (Und der allerletzte, kursiv und kleiner gesetzt: „Great Falls, Montana, Juli-September 2011“.) Vielleicht meint Handke mit dem „Großen Fall“ den letzten Vorhang im Theater. Wer weiß.
Wirklich beeindruckend ist die Idee Handkes, die er weit vor dem Ende, im „neuen Welttheater“, in den Text einfügt, dass der joggende Präsident am Abend eine Kriegserklärung abgibt. Auch ein möglicher „Großer Fall“…

Peter Handke macht in der Erzählung viele Anspielungen auf seine Biographie und sein Werk: „Und der Priester nannte den Schauspieler dazu bei einem Namen: ‚Christoph – denn Sie tragen, du trägst das Gewicht der Welt!’“ (S.185.) Gut, dass Handke sein Gewicht auch auf die leichte Schulter nehmen kann. Manche Stellen erwecken den Eindruck, der Autor sei der Schauspieler selbst und dann, er sei sein Sohn.

Das Buch ist etwas Langweiliges, aber für Feinschmecker. Es dient sich mit belanglosen Wichtigkeiten, aber auch wichtigen Belanglosigkeiten an. An vielen Stellen meidet es jede Intellektualität, die hin und wieder eine Schreibprämisse gerade dieses Autors war. Natürlich kann Handke – auch in diesem Werk – schreiben und beschreiben wie kein Zweiter. Und mit Sätzen von bisher nicht gekannter Qualität überraschen: „An dem Tag des Großen Falls überfiel ihn die Zeitnot aus einem besonders heiteren Himmel.“ (S.213.)
Störend sind dagegen die christologischen Fetzen aus Gebeten und Ritualen, meist an den Absatzenden, abgesehen davon, ob es über ein Neugeborenes „in einem Körbchen“ heißt: „Vater, warum hast du mich verlassen?“ (S.233) oder es gar lateinisch wird: „Veni, Creator Spiritus!“ (S.174).

Gleichzeitig mit dem Großen Fall ist interessante Sekundärliteratur erschienen, die Monographie „Peter Handke. In Gegenwelten unterwegs“ (Sonderzahl Verlag) von Evelyne Polt-Heinzl, einer ausgewiesenen Handke-Forscherin und Germanistin. Handkes Werk wird einer systematischen Relektüre unterzogen und den gesellschaftlichen Befindlichkeiten in den vergangenen fünf Jahrzehnten gegenübergestellt. Evelyne Polt-Heinzl eröffnet der Leserin und dem Leser neue Perspektiven und Zugänge.

Wie auch immer, Peter Handke ist so oder so ein bedeutender Schriftsteller.

Peter Handke Der Große Fall
Erzählung.
Berlin: Suhrkamp,
2011.
278 S.; geb.

ISBN 978-3-518-42218-2.

Rezension vom 27.04.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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