#Roman

Der Flügelschlag einer Möwe

Patricia Brooks

// Rezension von Sabine Schuster

„Es kommt ihm auf einmal so vor, als hätte sich ihr Leben von einem Augenblick auf den anderen verschoben. Etwas Unsichtbares hat sich plötzlich zwischen ihnen aufgetan, etwas, das sie spüren, aber nicht erfassen können.“ (S.93)

Ein Mord löst in Patricia Brooks Roman Der Flügelschlag einer Möwe eine Kette von Ereignissen aus, die das Leben einer Gruppe junger Menschen auf lange Sicht verändern. Ein Dominostein berührt den anderen und setzt Entwicklungen in Gang, die 1980 im italienischen Sistiana beginnen und von dort ausstrahlen nach Triest, Wien, London, Mailand, sogar nach Brasilien, wohin Stefan, eine der zentralen Figuren, im Jahr 2017 auswandern will.
„Does the Flap of a Butterfly’s Wings in Brazil set off a Tornado in Texas?“, fragt die Autorin zu Beginn ihres Buches und zitiert damit den amerikanischen Meteorologen Edward N. Lorenz, der den Begriff „Schmetterlingseffekt“ prägte, ursprünglich jedoch in diesem Zusammenhang vom „Flügelschlag einer Möwe“ sprach. Soweit der charmant-verwinkelte Weg zum Buchtitel, der ohne Hintergrundwissen durchaus falsch, nämlich kitschig-poetisch, gelesen werden könnte. Der Text währendessen erweist sich schnell als spannende Cold-Case-Geschichte, ganz klassisch gebaut übrigens: Das erste Kapitel ist in der nahen Gegenwart (im Jahr 2018) in Triest angesiedelt und beschreibt den Fund eines menschlichen Skeletts auf einer Baustelle. Bevor wir um 28 Jahre zurückversetzt werden, hat dies erst einmal für den Baggerfahrer Milo unangenehme Folgen. Er kommt nicht rechtzeitig zur Geburt seines ersten Kindes. In die Freude, Vater zu sein, mischt sich ein leicht bitterer Beigeschmack, etwas Wichtiges versäumt zu haben, das nicht mehr wiedergutzumachen ist. Dieses Gefühl kehrt im Roman immer wieder, aber keine Sorge, die Autorin lässt ihren Figuren wenig Zeit für Selbstmitleid, dafür ist ihr Erzählstil viel zu salopp: „Wegen dieses verfluchten Skeletts hat er die Geburt seines ersten Kindes versäumt.“ – Und Punkt.

Im Jahr 1980, als die ursprüngliche Handlung einsetzt, beziehen sechs Freunde aus Wien auf ihrer Maturareise ein Haus in Sistiana und innerhalb weniger Tage beginnt sich ihre Geschichte mit einem zufällig in ihrer Nähe verübten Verbrechen zu verflechten. Die hübsche Tati beobachtet, wie ein Mann getötet wird, und wird über Jahre hinweg von bösen Träumen verfolgt. Willi findet unversehens eine Menge Geld, das den Grundstein für seine berufliche Zukunft bilden wird. Und die fünfzehnjährige italienische Diebin Rosanna wird in eine Bestechungsaffäre verwickelt, deren Folgen sie noch nicht absehen kann. Für sie bedeutet der Mord an ihrem gewalttätigen Partner Corrado Rettung, auch wenn sie gar nicht weiß, dass er stattgefunden hat. Sie kann fliehen und ihr Leben Schritt für Schritt zum Guten wenden. Corrado, ein Dealer und Kleinkrimineller, geht auch sonst niemandem ab, weshalb sein Körper nach einer missglückten Lösegeldübergabe heimlich im Umland von Triest verscharrt wird. Die Jugendlichen aus Wien melden der italienischen Polizei einen Mord, es gibt jedoch keine Leiche. Tati, die Augenzeugin, deren Wahrnehmung zunehmend angezweifelt wird, verfällt in eine anhaltende Verstörung, die zur Trennung von ihrem innig geliebten Jugendfreund Stefan führt und ihr ganzes Leben in völlig unerwartete, fremde Bahnen lenkt. Willi hat betrunken am Heimweg das verlorene Geldpaket aufgelesen und schweigt nun aus Angst. Und Frank, der Mörder, muss sich bei seinem Auftraggeber nicht so sehr wegen des Toten als wegen des verschwundenen Geldes verantworten und bezahlt seinen Fehler ebenfalls beinahe mit dem Leben.

Patricia Brooks lässt ihren Roman nach dem Eingangskapitel wie ein Uhrwerk ablaufen, Name, Ort und Jahreszahl bezeichnen jeden Abschnitt, erzählt wird chronologisch aus der Perspektive aller beteiligten Personen, die durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden sind, teilweise ohne einander zu kennen oder voneinander zu wissen.
Frank zum Beispiel, der nach dem Verhör durch seine Auftraggeber eigentlich tot sein sollte und sich entgegen jeder Erwartung ins Leben zurückkämpft, stirbt am Ende auf ebenso zufällige Weise, wie er einst in Sistiana einen Mann getötet hat, bei einem Verkehrsunfall in Wien, und wieder ist Tati Zeugin der Ereignisse. Während er sie wiedererkennt und „auf einmal weiß, dass sie gekommen ist, um ihn zu holen“ (S.293), versäumt Tati zum wiederholten Mal in diesem Roman eine Chance, nochmals mit Stefan zusammenzukommen, den sie am letzten Abend vor seiner Abreise nach Brasilien auf einem Fest ihres gemeinsamen Freundes Fred treffen wollte.
Stattdessen kommen einander auf diesem Fest Stefan und sein Sohn David näher; Stefan wusste jahrelang nicht, dass er der Vater dieses inzwischen erwachsenen Kindes war, das er mit Tatis jüngerer Schwester Charlotte gezeugt hatte, während Tati in England einen viel älteren Mann geheiratet und alle Kontakte abgebrochen hatte. Georg, der Dokumentarfilmer, zeigt auf der Party seine ersten Filmversuche aus der Schulzeit, auch den Film von der einstigen Maturareise: „Sie alle sind darauf zu sehen. Tati, Isabel, Katrin, Willi, Fred und Stefan. (…) David fällt auf, wie ähnlich Tati und Stefan damals ausgesehen haben. Ihr langes, lockiges braunes Haar, ihre Ernsthaftigkeit und die Zärtlichkeit, die in Bruchteilen von Sekunden aufblitzt, wenn sie einander ansehen oder berühren. Es macht ihn traurig. In diesem Augenblick begreift er, dass sein Vater ein anderer ist als der junge Mann in dem Film, dessen Selbstverständnis unveresehrt ist, von keinem Schmerz und keinen Enttäuschungen angekratzt. Und Tati? Sie strahlte etwas zuversichtlich Vertrauensvolles aus, das er nie in ihr gesehen hat.“ (S.299)

Rund um diese Freunde herum lernen wir noch zahlreiche andere Personen kennen, Ehepartnerinnen und Ehepartner, Geschwister, Kinder, eine Therapeutin – in Summe ergibt dies eine große Fülle an Geschichten, und während Patricia Brooks in ihrem Vorgängerroman „Die Grammatik der Zeit“ eine psychologische Studie des Auseinanderlebens und Verlassenwerdens verfasst hat, zeichnet sie nun die Entwicklung ihrer Figuren in unterschiedlichste Richtungen auf und lässt gerade jene, die mit schlechten Karten beginnen, große Ausstrahlung entwickeln, allen voran die ehemalige Straßendiebin Rosanna, die das italienische Restaurant „Da Nino“ in Wien als Küchenhilfe wider Willen betritt, um es später selbst zu führen und mit großem Einsatz zu einem kulinarischen und sozialen Treffpunkt auszubauen. Auch der Gauner Frank erschafft sich als Kunsthändler neu und erlebt dank seiner Tochter, der er in zärtlicher Liebe verbunden ist, etliche glückliche Jahre, ebenso wie der gefallene Banker Fred, der im reifen Alter noch einmal ganz neu beginnt. Seine Partnerin dabei ist Asha, die äußerst patente Tochter seiner alten Freundin Isabel, die seine Spieler- und Kämpfernatur von Kind auf schätzt: „Unromantisch, ohne Ideologie und pragmatisch“ sei er, ganz im Gegensatz zum übrigen Freundeskreis ihrer Mutter. En passant und nicht frei von Ironie portraitiert die Autorin mit den Worten der jungen Asha ihre eigene, vom wirtschaftlichen Wachstum geprägte Generation: „Sie sind wie verwöhnte Kinder. Es ist schwer, diese Generation zu verstehen. Sie haben zu viele Gefühle für sich selbst und zu wenig Entschlossenheit, sich den neuen Anforderungen zu stellen.“ (S.272)

Um den Überblick über die vielen Personen zu behalten, sollte man diesen Roman zügig lesen, doch das ergibt sich ganz von selbst durch die Spannung, die die Autorin durchgehend hält, um am Ende sehr gekonnt einige Kreise zu schließen, anderes bewusst offenzulassen und auf den letzten Seiten noch eine neue Geschichte anzureißen, deren Ausgang wiederum sehr ungewiss ist. Dass das alles blendend funktioniert und auf gut 300 Seiten Platz findet, ist der sprachlichen und formalen Organisiertheit der Autorin zu verdanken, die nicht viele Sätze braucht, um eine Figur lebendig zu charakterisieren oder einen Dialog auf den Punkt zu bringen. Da ist viel Luft zwischen den Zeilen, und doch entstehen exakte Bilder und differenzierte Gefühle. Es scheint, dass der Schmetterlingseffekt auch in der Phantasie der LeserInnen einiges anstößt.
Ein packender Roman und eine Autorin, die Sie kennenlernen sollten!

Patricia Brooks Der Flügelschlag einer Möwe
Roman.
Wien: Wortreich, 2017.
312 S.; geb.
ISBN 978-3-903091-27-6.

Rezension vom 23.06.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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