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Der fliegende Berg

Christoph Ransmayr

// Rezension von Peter Landerl

Christoph Ransmayr eröffnet seine Bücher gerne mit dem Tod. In seinem 1995 erschienenen Roman Morbus Kitahara lautete der erste Satz: „Zwei Tote lagen schwarz im Januar Brasiliens.“ Sein neuer Roman Der fliegende Berg beginnt so: „Ich starb / 6840 Meter über dem Meeresspiegel / am vierten Mai im Jahr des Pferdes.“ Für Ransmayr ist der erste Satz eines Buches der wichtigste, er muss den Kern der Handlung enthalten, Dutzende Male ändert er ihn ab. Erst wenn der erste Satz sitzt, kann der nächste folgen, die Erzählung fortgehen.

Elf Jahre liegen zwischen den beiden Romanen, in denen Ransmayr kleinere Arbeiten veröffentlicht hat und viel gereist ist. Es ist schon interessant, wie sehr seine langsamen, überhaupt nicht marktgerechten Veröffentlichungszyklen und seine Zurückgezogenheit das Feuilleton reizen, Ransmayr nach- und aufzuspüren. Nicht wenige Homestorys und Interviews sind in den letzten Wochen erschienen und immer war zu lesen, dass Ransmayr geheiratet habe und deshalb von Irland nach Wien zurückgekehrt sei.

Der fliegende Berg fügt sich schön ans bisherige Ransmayrsche Oeuvre, das von Menschen in Extremsituationen berichtet, von Reisenden, Aufbrechenden, Entdeckern, die bis an ihre Grenzen und die der Welt gehen, dorthin, wo Existenz unmittelbar wird. Diesmal kreist die Erzählung um zwei irische Brüder, Liam und Pádraic, die aufbrechen, um den sagenhaften Phur-Ri, den fliegenden Berg in Kham in Osttibet zu besteigen. Liam, der Bruder des Erzählers, ist im Internet auf diesen angeblich unentdeckten Berg im Massiv des Transhimalaya gestoßen und seitdem davon besessen, ihn zu bezwingen. Zuerst gelingt es Liam, der als Aussteiger auf einer abgeschiedenen westirischen Insel lebt, dort eine Landwirtschaft betreibt und sich mit Astronomie und Geodäsie beschäftigt, seinen als Schiffsmaschinisten alle Meere der Welt befahrenden Bruder nach Hause zu locken und ihn schließlich mit seiner Entdeckerlust zu infizieren und zu überreden, ihn auf die Reise zu begleiten.

Das Land Kham ist von den Chinesen besetzt, aber es gelingt den Brüdern, sich von einer offiziellen Expedition abzusetzen und mit einem Nomadenclan und dessen Yakherde zum Phur-Ri zu ziehen. Liam, der Ältere, starrköpfige „Mister Kaltherz“ hat allein den Aufstieg zum Berg im Sinn, Pádraic dagegen verliebt sich in die Nomadin Nyema und „verlieget sich“ wie einst Erec, die Hauptfigur in Hartmann von Aues gleichnamigem Artusroman – worauf Karl-Markus Gauß ganz richtig hingewiesen hat. Nach Konflikten und Alleingängen brechen die beiden Brüder schließlich doch gemeinsam zum Phur-Ri auf, finden im Aufstieg zu alter brüderlicher Vertrautheit und erreichen den Gipfel.

„Denn die höchsten, blendenden Höhen des Phur-Ri / machten unsere Rückkehr, machten alles, / was uns jenseits des Gipfels erwartete, / so kostbar, so deutlich und strahlend, / als würde erst an einem Wegpunkt, / an dem jeder weitere Schritt ins Leere führte, / nicht nur meine Liebe zu Nyema, / auch die Liebe, die ich für meinen Bruder empfand, / klar und unbezweifelbar werden.“

Beim Abstieg aber kommen die beiden Brüder in einen fürchterlichen Sturm, sie verlieren sich, Pádraic, der Erzähler, liegt im Sterben, doch Liam findet ihn. „Nyema … Es war Nyema, die gesagt hat, / daß mein Bruder mich im Windschatten / meiner letzten Zuflucht wohl aus dem Tod / ins Leben zurückerzählte, indem er mit seiner Litanei von Namen / eine gemeinsame Erinnerung beschwor, / so unauslöschlich, / daß sie die Vergangenheit in Gegenwart verwandeln / und mich selbst aus einer Ferne zurückrufen konnte, / in der ich schon verschwunden war.“

Erzählen kann erlösen und am Leben erhalten, Ransmayr beschwört in seinem Roman in schönen Bildern die Urkraft des Erzählens. So wird auch die Liebesgeschichte zwischen Pádraic und Nyema als Akt des Aufbruchs aus der Sprachlosigkeit dargestellt. Er versucht, ihre Wörter nachzusprechen, sie schreibt Schriftzeichen auf seinen Körper. Wie das Erzählen sind Buchstaben, ist Schrift eine „Arznei gegen die Sterblichkeit, / die zwar nicht heilen, / aber doch lindern konnte.“ Wie im ersten Satz des Romans angekündigt, kehrt nur einer der Brüder lebend vom fliegenden Berg zurück. Nachdem Liam seinen Bruder aus dem Tod ins Leben zurückgeholt hatte, wird er von einer Lawine erfasst.

Der fliegende Berg ist ein wunderbarer Roman, kein Bergsteigerroman, wie man aus der Nacherzählung des Plots schließen könnte, aber einer, in dem das Bergsteigen eine Rolle spielt – Ransmayr ist ein leidenschaftlicher Bergsteiger und war mit Reinhold Messner in Osttibet, er weiß also, wovon er erzählt. Der fliegende Berg ist ein Liebesroman und ein Familienroman. Er erzählt vom Kampf der Tibeter gegen die chinesischen Besatzer und über die Figur des Vaters der Brüder, „Captain Daddy“, einem fanatischen IRA-Anhänger, vom irischen Unabhängigkeitskampf. Ransmayr erzählt vom stürmischen Meer und von höchsten Gipfeln, von westlichem Denken und östlicher Spiritualität und versteht es, diese Themen, Motive, Erzählstränge zu einem harmonischen Ganzen zu formen. Wunderschöne Naturbeschreibungen sind Ransmayr gelungen, mächtig wie das Massiv des Transhimalaya. Es sind die elementaren Naturgesetze, die Ransmayr in eine poetische Sprache zu transponieren vermag, die archaischen Gefühle, die der westliche Mensch oft nicht mehr zu spüren vermag.

Welche (durchaus pejorativ gemeinten) Adjektive dem Roman von Kritikern nicht schon zugeschrieben wurden: Er sei romantisch, sentimental, esoterisch, emphatisch, pathetisch, kitschig, sakral. Mein Gott! – ihr Rezensentenkopfmenschen, ihr Gefühleverschmäher, ihr Tränenunterdrücker, die ihr ihn dafür kritisiert! Wer wenn nicht er könnte so vom Erhabenen erzählen, von der Liebe? Und schön, dass ein Autor sich traut, einen Roman in rhythmisierter, in Strophen gegliederter Prosa zu schreiben. Wer hat das zuletzt gemacht? Schnell gewöhnt sich der Leser an die neue Lektüreform, verringert das Lesetempo und entdeckt Wort für Wort, Zeile für Zeile, welche Sprachmächtigkeit in dem Buch steckt.

„Wie es Bücher zum Film gibt, gibt es welche zur mündlichen Erzählung.“, sagte Ransmayr in einem Interview. Der fliegende Berg ist ein Buch zum mündlichen Vortrag und eben das macht die „magische“ Wirkung des Buches aus: dass man bei der Lektüre den Eindruck gewinnt, einer der Brüder sitze in einem Nomadenzelt und erzähle einem seine Geschichte, die eben wegen dieser Unmittelbarkeit an etwas Mythischem, Urtümlichen rührt. Der fliegende Berg, obwohl als Roman bezeichnet, geht über ihn hinaus, viele Schritte hin zum Epos, das ja auch zur mündlichen Überlieferung von Ohr zu Ohr konzipiert war und irgendwann schriftlich festgehalten wurde.

„Ich wollte“, sagt Ransmayr, „einmal einen Weg in seiner maximalen Länge beschreiben. Einen Weg in die Höhe, der ja, da alle Höhen als Meereshöhen vermessen werden, am Meeresspiegel beginnt und auf einem Gipfel endet. Dort, wo – wie es auch im Roman heißt – „jeder weitere Schritt ins Leere führt“. Nicht nur Liam und Pádraic haben den Gipfel erreicht, auch Ransmayr ist mit dem fliegenden Berg am Gipfel seiner Erzählkunst angelangt.

Der fliegende Berg.
Roman.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2006.
359 Seiten, gebunden.
ISBN 3-10-062936-1.

Homepage des Autors

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 09.11.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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