#Roman

Der Elefantenfuß

Hans Platzgumer

// Rezension von Roland Steiner

Hans Platzgumer kann beim Verfassen dieses auf Reisen und Recherchen gestützten Romans nicht vorausgesehen haben, dass just zum Erscheinen ein GAU, wie er sich am 26. April 1986 in Tschernobyl ereignete, in Japan eintreffen könnte. Die aktuelle Katastrophe verleiht dem in allernächster Zukunft spielenden Mehrpersonenstück – Platzgumers nach „Expedition“ (2005) und „Weiß“ (2008) drittem Buch – dennoch erhöhte Brisanz, sodass bereits die zweite Auflage erschienen ist. Der 1969 in Innsbruck geborene Musiker (u.a. HP Zinker, Goldene Zitronen), Komponist, Produzent und Schriftsteller zeigt hier am Beispiel Tschernobyl, welche längst wieder ausgeblendeten Langzeitfolgen die Gier unserer Spezies hat.

 

Der Roman beginnt mit einer essayistisch-historischen Einführung zum GAU im Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl, Ausgangspunkt der Handlung ist der 19. Juni 2011, der letzte Tag einer Woche, die in den folgenden Kapiteln chronologisch geschildert wird. Im Sumpfwald um Pripjat nahe der Reaktorruine wurde ein schwarz bemalter Mann in Strahlenschutzkleidung erschossen, der nun verwest. Die Pripjatsümpfe der Ukraine und Weißrusslands – ein Kreis von 30 Kilometern Radius bzw. 280.000 Hektar – galten als Todeszone, weshalb sie mit Drahtzäunen und Grenzposten rund um die Geisterstädte Pripjat und Tschernobyl notdürftig gesichert wurden. Die Form des Sarkophags um den Reaktorblock ähnelt dem Titel gebenden Elefantenfuß.
Nach dieser Einleitung führt ein auktorialer Erzähler, der auch alle Figurenperspektiven und deren jeweiligen Duktus einnimmt, durch die Geschehnisse um acht Personen, die sich aus unterschiedlichen Motiven in jener Gegend aufhalten. Jeweils zwei Geschichten laufen durch einen Strich getrennt auf den Buchseiten fort, was den Lesefluss leider unnötig hemmt.

Der Genfer Universitätsdozent Philippe Jostin und seine Freundin Soraya, deren Großmutter in der Zwischenkriegszeit aus Russland in die Schweiz emigriert war, kommen von Genf problemlos nach Pripjat, wo sie eine aufgelassene Familienwohnung beziehen und eine direkte Verbindung zu Gott suchen. Das Paar kennt sich erst kurzem, er ist autoritär und stur, unberechenbar und gewalttätig, sie fasziniert und verliebt bis zur Devotion. Laut Philippe hätten die Kernphysiker das Verbrechen von Tschernobyl begangen, um Gott herauszufordern, der aber selbst in allen Atomen zu finden sei, nun sinnt er auf Rache. Soraya macht er mittels Valium gefügig, sodass er ungestört die Gegend erkunden kann.

Igor Kochanow, ein alter und einsam-verbitterter Tankstellenbesitzer, verkauft Wasser zu überhöhten Preisen. Wenn ihn sein einziger Freund Alexander Kudrjagin besucht, echauffiert er sich über die leichtgläubige Radiumverwendung im 20. Jahrhundert und andere Menschheitsidiotien. Dem früheren AKW-Kernphysiker bleibt bloß seine Leidenschaft für die Astronomie, nachdem seine Frau an der Kontaminierungsfolge Schilddrüsenkrebs gestorben ist. Er glaubt (wie Philippe) an eine Umkehrung des linearen Zeitpfeils – der GAU habe eine Delle in die Raumzeit geschlagen – und die Existenz paralleler Welten und trachtet am Ende seines Lebens danach, über seine geistigen Grenzen hinauswachsen.

Das Spektrum menschlicher Vermessenheit – Gott spielen, Galaxien erobern – erweitert der Autor noch anhand der Figur Alexander. Dieser war bei der Explosion erst 16 Jahre alt und fühlt sich hernach als verstrahlter, ionisierter Hybrid, der wie die Landschaft „eine neue Art des Lebens erlernen [hat] müssen.“ (S. 33) Als Flucht nach vorne und Öffnung in eine andere Dimension, um Gift auszustoßen und sein Gehirn freizusetzen, bohrt er ein Loch in seine Schädeldecke bis zur Hirnrinde (Trepanation). Seitdem läuft er, vernarbt und kahl geschoren, täglich lange Strecken durch die Todeszone. Dort trifft er auf Soraya, die kurz ihre Behausung verlassen hat. Misstrauisch reden sie erst aneinander vorbei, ehe sie sich doch etwas anfreunden und er ihr zur Trepanation rät.

Hans Platzgumer webt seinem apokalyptisch-melancholischen Text neben atom- und quantenphysikalischen auch medizinische Erläuterungen ein, die zu faszinieren wie auch zu erschrecken wissen. Doch dem nicht genug, zeigt er über einen weiteren Protagonisten die Spätfolgen für die malträtierte Natur auf.
Der Biologiedoktorand Heinrich Penz alias Henry fährt auf seinem Motorrad von Salzburg in die Zone zwecks Feldstudien an wilden Tieren wie Wolfshunden, die hier trotz Verstrahlung leben und wieder zurückgedrängt werden könnten. Igors Tankstelle wird das Basislager seiner Expedition, die er auf einem Digital Recorder tagebuchartig festhält. Während die Evakuierten überall als Aussätzige galten, betrieben Plünderer schwunghaften Handel mit den verseuchten Waren – hernach kamen Katastrophentouristen wie Henry. Nun leben bereits 400 Rücksiedler in der Zone, ignoriert von den Regierungen. Im O-Ton seines Tagebuchs resümiert Henry, der ungehindert in die Sperrzone vordringt, die Arbeit der Liquidatoren, schildert die Verblüffung ob der geringen Strahlenwerte und gesteht seine Naivität, denn Wolfshunde sieht er keine. Alles sei tot und lebendig zugleich, die Realität zur Fiktion geworden.

In dieser gefährlichen Gemengelage treiben auch Philippe und Soraya. Nach ihrem Treffen mit Alexander schlägt er sie und steigert ihre Tablettendosis. Fest davon überzeugt, den letzten Weg zu Gott alleine zu gehen, hat er bloß ihre Russischkenntnisse ausgenutzt. In der Nacht zum 18. Juni bricht er mit rund dreißig Kilo Plastiksprengstoff auf zum Reaktor: Sei der GAU eine erste Warnung gewesen, so wolle nun er der frevlerischen Menschheit zeigen, dass Allvater jetzt geurteilt hätte. Es ist die Figur dieses Gottspielers, die dem Roman auch überaus spannende Krimielemente beimengt. Lässt sich Philippes Hybris stoppen?
Drei ukrainische Soldaten campieren an ihrem freien Wochenende in der Zone, um sich mit Wodka, dem einstigen vermeintlichen Strahlengegengift, zu besaufen. Gennadi ist bereits regungslos und wird von den Kameraden bepisst, der Ex-Plünderer Artjom schläft ein. Oleg, herrschsüchtig wie betrunken, zieht in den Wald, wo er einen Fremden sieht und sich endlich wieder als Jäger fühlt…

Hans Platzgumers Roman ist in erster Linie eine dicht komponierte, stilistisch vielschichtige Prosa, voller Bitterkeit und Düsternis angesichts der Besessenheit des Menschen von technischem Fortschritt, und voller Skepsis gegenüber der vermeintlich allmächtigen Wissenschaft. In zweiter Linie stellt der Text aber auch (nicht nur angesichts der aktuellen Ereignisse in Japan) ein wachrüttelndes Antidot zur Informationsverschleierung staatlicher wie betrieblicher Kernkraftlobbys dar – wider das Vergessen.

Hans Platzgumer Der Elefantenfuß
Roman.
Innsbruck: Limbus, 2011.
240 S.; geb.
ISBN 978-3-902534-43-9.

Rezension vom 04.04.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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